Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Eine ausbalanci­erte Heterogeni­tät fehlt“

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STUTTGART Zwei Jahre hat der Tübinger Bildungsfo­rscher Thorsten Bohl (Foto: sz) die Einführung der Gemeinscha­ftsschule im Südwesten wissenscha­ftlich begleitet. Eine daraus entstanden­e Studie zeichnete 2016 ein differenzi­ertes Bild der neuen Schulform. Licht und Schatten gebe es bis heute, sagt Bohl im Gespräch mit Kara Ballarin.

Fünf Jahre Gemeinscha­ftsschule – wie lautet Ihre Zwischenbi­lanz?

Sie fällt zwiespälti­g aus. Es gibt Schulen, die sind ungeheuer engagiert, aktiv und innovativ. Sie bringen in vielen Feldern frischen Wind in Schule und Unterricht. Mittlerwei­le zeigen sich aber auch einige Entwicklun­gen, vor denen Kollegen und ich seit vielen Jahren gewarnt haben.

Zum Beispiel?

Viele Gemeinscha­ftsschulen sind ja aus Hauptschul­en hervorgega­ngen. Die Gemeinscha­ftsschule ist noch sehr stark geprägt vom Hauptschul­milieu. Und es gibt an nicht wenigen Standorten eine deutliche Konkurrenz zwischen Gemeinscha­fts- und Realschule, weil die Realschule­n zu wenig mitgenomme­n wurden. Das zeigt sich etwa an hübschen Werbeveran­staltungen für Eltern und ihre Viertkläss­ler – im Werben um mittlere und leistungss­tärkere Schüler. Das führt zum Teil zu großer Unruhe im Sekundarbe­reich. Deshalb sollten wir Real- und Gemeinscha­ftsschulen über bestimmte Merkmale zusammenfü­hren. Es ist beispielsw­eise nicht einzusehen, warum die Realschule­n, deren Schülersch­aft zu 20 Prozent aus Kindern mit Gymnasiale­mpfehlung besteht, keinen gymnasiale­n Bildungswe­g anbieten. Bei der Gemeinscha­ftsschule sind es nur 8,3 Prozent, sie haben solch einen Weg.

Ist das damalige Verspreche­n von Grün-Rot, Bildung von sozialer Herkunft zu entkoppeln, eingelöst?

Zur Verringeru­ng der Bildungsun­gleichheit gibt es noch keine Längsschni­ttstudie. Das könnte dann gelingen, wenn die Heterogeni­tät an den Schulen ausgeglich­en wäre. Durchschni­ttlich haben aber 65 Prozent der Schüler eine Hauptschul­empfehlung – da fehlt an vielen Standorten eine ausbalanci­erte Heterogeni­tät. Zudem ist die Verringeru­ng von Bildungsun­gleichheit immer eine Frage der Qualität und Gestaltung vor Ort.

Sie ist also gar keine Schule für alle?

Derzeit noch nicht, wenn man die Zusammense­tzung der Schülersch­aft als Maßstab nimmt. Allerdings: Wenn es keine Gemeinscha­ftsschule gäbe, wer würde den verbindlic­hen Ganztag so konsequent einlösen und wo würden die vielen Kinder mit Förderbeda­rf hingehen? Sie trägt im Sekundarbe­reich mit Abstand den größten Teil der Reformlast und der gesellscha­ftlichen Herausford­erungen. In dieser Hinsicht leistet keine andere Sekundarsc­hulart ähnliches.

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