Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Lob für Gemeinschaftsschule
Bei Festakt machen Ministerpräsident und Kultusministerin aber auch klar, dass sich die Schulart mit den anderen messen lassen muss
STUTTGART - Die Kritik kam an: Eltern von Gemeinschaftsschülern hatten jüngst bitterlich beklagt, dass ihre Schulart unter Grün-Schwarz ins Hintertreffen gerate. Dem ist die Grünen-Fraktion am Samstag in der Stuttgarter Sparkassenakademie mit einer Feier zum fünften Geburtstag der Schulform entgegengetreten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) machten allerdings klar: Auf eine Sonderbehandlung muss niemand mehr hoffen.
Die Einführung der Gemeinschaftsschule 2012 gilt als eine der folgenreichsten Neuerungen der grün-roten Regierungszeit. Endlich sollte das verkrustete dreigliedrige Bildungssystem aufgebrochen werden, sollten Kinder mit unterschiedlichstem Leistungsstand unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihrem Förderbedarf gemeinsam lernen. Dafür wurde diese „Schule für alle“eingeführt – nach Meinung von Experten allerdings überhastet und überfrachtet mit Reformeifer.
Stärken und Schwächen
Nach fünf Jahren zeigen sich die Stärken, aber auch Schwächen der Schule, wie der Tübinger Bildungsforscher Thorsten Bohl der „Schwäbischen Zeitung“sagt (siehe „Nachgefragt“). „Sie trägt im Sekundarbereich mit Abstand den größten Teil der Reformlast und der gesellschaftlichen Herausforderungen“, sagt er. Als Stichworte nennt er Heterogenität der Schülerschaft und Inklusion.
Als Projektleiter hat Bohl mit einem Team aus Wissenschaftlern unterschiedlichster Universitäten die Einführung der Gemeinschaftsschule im Land beobachtet und 2016 die Begleitstudie „Wissenschaftliche Begleitung Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg“veröffentlicht. Die sogenannte WissGem-Studie bescheinigte der Gemeinschaftsschule, dass der Unterricht in etwa so gut sei wie der an den herkömmlichen Schulen. Das individuellere Lernen auf verschiedenen Leistungsniveaus sei für schwächere Schüler eher schwierig. Letztlich, so sie Studie, komme es wie immer und überall auf die Motivation und die Fähigkeiten der Lehrer an.
Dass sie gerade an Gemeinschaftsschulen Besonderes leisteten, betonte am Samstag auch der Ministerpräsident. Kretschmann äußerte seinen Respekt vor der Pionierarbeit der Lehrer, wehrte sich zugleich aber gegen Kritik, die Politik unterstütze die Gemeinschaftsschule nicht ausreichend. „Irgendwann ist es normal (...), und dann muss man sich auch ganz normaler Kritik stellen.“
Ähnlich äußerte sich Kultusministerin Eisenmann. Sie berichtete von ihren Nichten – Zwillinge, die ebenfalls fünf Jahre alt seien. „Sie haben eigene Ideen, behaupten sich und haben noch viel vor“, berichtete Eisenmann. Klare Unterstützung für die Gemeinschaftsschule signalisierte sie ebenso wie der Ministerpräsident. Eine Bevorzugung werde es aber nicht geben – das war vor allem zwischen den Zeilen deutlich herauszuhören.
Das ist allerdings der Vorwurf der FDP-Landtagsfraktion. Deren Bildungsexperte Timm Kern monierte: „Nach wie vor ist die Gemeinschaftsschule mit erheblichen Privilegien gegenüber den anderen Schularten ausgestattet, beispielsweise bei Lehrpersonal, beim Ganztagsausbau oder bei der Bezuschussung des Schulbaus.“Die SPD, die die Gemeinschaftsschule mit eingeführt hat, kritisierte indes unzureichende Ausstattung mit Lehrern und Unterrichtsausfall. „Es gibt mehr als 700 Gymnasiallehrkräfte, die gerne an Gemeinschaftsschulen arbeiten würden, aber keine Stelle bekommen — da muss von den Grünen doch mehr kommen als nur Schulterzucken“, monierte Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei.
Offener Ganztag in Vorbereitung
Obwohl die CDU noch während des Landtagswahlkampfs 2016 Stimmung gegen neue Gemeinschaftsschulen ausgesprochen hat, bekannte sich Eisenmann zur Schulart. Als Bildungsbürgermeisterin von Stuttgart hatte sie selbst acht beantragt. Der gebundene Ganztagsunterricht und Inklusion gehörten zum pädagogischen Konzept. Deshalb tue sie sich auch schwer damit, den Ganztagsunterricht unverbindlicher zu gestalten, sagte sie der „Schwäbischen Zeitung“.
Doch genau das ist im Koalitionsvertrag verankert: Gemeinschaftsschulen sollen in einem Modellversuch auch offene Ganztagsschulen werden dürfen. „Wir beschäftigen uns im Haus damit, denn wir stehen zum Koalitionsvertrag“, so Eisenmann. Wie das pädagogisch sinnvoll funktionieren könne, sei eine große Herausforderung.