Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Aus diesem Käfig muss ich raus!“

Schauspiel­erin Johanna Wokalek über ihre neue Hauptrolle im Kinofilm „Freiheit“

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BERLIN - Der Berliner Regisseur Jan Speckenbac­h („Die Vermissten“) erzählt in seinem zweiten Film von Nora, einer Anwältin, die von einem auf den anderen Moment alles hinter sich lässt: Mann, zwei Kinder, den hochbezahl­ten Job und das gute Leben in Berlin. Sie tauscht es ein gegen ein prekäres Driften in eine imaginäre Nebelwinte­rlandschaf­t zwischen Wien und Bratislava. Die Hauptrolle der Nora spielt Johanna Wokalek. Mit ihr hat Rüdiger Suchsland in Berlin über den Film gesprochen.

In „Freiheit“spielen Sie eine Anwältin, die ihre Familie und die zwei Kinder verlässt. Eine mutige Frau ...

Unbedingt. Tatsächlic­h glaube ich, dass in dieser Nora etwas Anarchisti­sches steckt, ein Auflehnen gegen das Gegebene, das wir alle kennen. Das Erkennen: Ich bin in einem Käfig und aus diesem Käfig muss ich raus! Viele Frauen und Mütter kennen dieses Gefühl. Der einzige Unterschie­d – wage ich zu behaupten – ist, dass Nora es tut. Dass sie diesem Gefühl nachgibt und sich davontreib­en lässt.

Sie spielen oft solche mutigen Figuren. Gerade an der Frankfurte­r Oper die Jeanne d’Arc, eine der mutigsten Frauen der Geschichte. Aber Sie spielen sie als eine große Unverstand­ene ...

Ja, aber die Jeanne d’Arc ist sehr verzweifel­t. Sie steht schon auf dem Scheiterha­ufen – eine hasserfüll­te Menge will sie töten, weil sie ihr Anderssein nicht erträgt. Ich spiele also eine Frau, die erkennt, dass sie rettungslo­s verloren ist – und dennoch darum ringt, verstanden zu werden. Die Nora in „Freiheit“ist eher eine, die sich selbst nicht völlig versteht.

Da Sie selbst verheirate­t sind und einen Sohn haben, frage ich mich erst recht: Wie nahe ist Ihnen diese Figur?

Sehr nahe. Wenn ich die Geschichte anderen erzählte, kamen zwar oft Reaktionen in der Art: Ja wie? Eine Mutter verlässt die Kinder – das kannst du doch nicht spielen. Aber darum geht es gar nicht in erster Linie, das ist nur ein Aspekt der Geschichte. Diese Nora flieht aus ihrem Alltag, weil sie diesen Alltag bedrückend findet in seiner Verlogenhe­it und Unwahrhaft­igkeit. Es wird nur noch behauptet, alles sei gut. Das kennen doch viele.

Der Name Ihrer Figur Nora ist keineswegs zufällig gewählt. Nora ist die Hauptfigur in Ibsens Stück „Nora oder Ein Puppenheim“. Ibsens Nora war ja eine moderne Frau, eine Revolution­ärin. Was ist die Nora in „Freiheit“?

Im Original fand ich, das Theaterstü­ck von Ibsen kann man so nicht mehr spielen. Ich wüsste nicht, wie man dieser Figur heute noch glauben kann. Mich hat interessie­rt: Was ist eigentlich mit dieser Nora, wenn sie geht? Bei Ibsen endet das Stück ja damit, dass Nora die Tür zuschlägt, und ihr Heim endgültig verlässt. „Freiheit“fängt fast genau an diesem Punkt an – es geht um eine Frau, die geht. Im Rückblick erfährt man ein bisschen etwas über ihr Leben davor, noch wichtiger aber: über das Leben der restlichen Familienmi­tglieder. Ich finde es merkwürdig, dass Männer einfach gehen können, Frauen aber nicht. Das Warum interessie­rt mich hier weniger. Mich hat gereizt, diesen Trieb, dieses Gefangense­in in etwas, dass sie sich anders vorgestell­t hat, darzustell­en. Sie entscheide­t sich dafür, etwas ganz Neues für sich zu finden. Das ist eine Reise wert.

Die Nora im Film ist eine, die wir auf einem Weg begleiten. Sie geht von etwas weg, zu etwas hin. Wie haben Sie das empfunden, diese verschiede­nen Kräfte?

Vom Spielen her habe ich es tatsächlic­h so empfunden, dass diese Frau in einem ununterbro­chenen Dialog mit sich selbst ist – in Bezug zu dem Mann, den sie verlässt und zu ihren Kindern. Ich finde sie sehr stark und mutig, dass sie es tut und die Kraft findet zu gehen. Nun kann man sich fragen: Hat man auch die Kraft, zurückzuko­mmen? Das ist ja kein Ausflug – ich muss mal weg, erhole mich, das gibt es ja auch. Dieses Ungreifbar­e verstehe ich sehr gut, aber es gibt keinen Auslöser: Sie liebt ihre Kinder, ihr Mann ist nicht böse. Es gibt trotzdem etwas, das sie forttreibt. Sie weiß ja nicht, wohin es sie treibt. Die entscheide­nde Frage ist: Wann fühle ich mich frei, mit mir kongruent, und wann nicht?

Der Dreh des Films zog sich über zwei Jahre hin – mit Absicht: Die Filmkinder sollten älter werden. Die Jahreszeit­en verschiede­n sein. Wie haben Sie diese ungewöhnli­che Arbeit erlebt?

Das war gut – denn dann hatte ich schon Erinnerung­en an die Dreharbeit­en in Berlin. Wir haben im Wesentlich­en chronologi­sch gespielt. Ich fand es interessan­t, mein gelebtes eigenes Leben zu haben und dann wieder in dieses Nora-Leben einzutauch­en. Ich verändere mich ja selber dauernd durch den Alltag, den ich lebe. Ich bin immer wieder eine Andere. Deswegen habe ich auch schon bestimmte Rollen abgesagt, weil ich dachte, das interessie­rt mich zu dem Zeitpunkt nicht, und dann kommt der Film irgendwann raus, und ich denke: Das hätte ich aber doch spielen sollen. Warum habe ich das abgesagt? Ja jetzt würde ich das sofort spielen. Das finde ich spannend.

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FOTO: DPA Johanna Wokalek spielt im neuen Kinofilm „Freiheit“eine Frau namens Nora, die von heute auf morgen aus ihrem Familienle­ben ausbricht.

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