Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Wenn Mama trinkt und Papa schlägt

Greift das Jugendamt bei einer Familie ein, muss es oft schnell gehen – Pflegeelte­rn auf Abruf helfen

- Von Susanne Kupke

BIRKENFELD (lsw) - Platz ist nicht viel in der guten Stube: Neben einem Kinderhäus­chen gibt es eine Sofaecke, an den Wänden Regale und Terrarien, als Raumteiler ein Aquarium und als Herzstück ein liebevoll gedeckter großer Tisch. Dazwischen Kinder, zwei Welpen und ein weißer Igel. Kindergebu­rtstag könnte man meinen, zumal die „Happy-Birthday“-Girlande noch hängt. Doch der war schon. Bei Familie W. ist auch so immer was los. Sie hat derzeit acht Kinder: Vier eigene, zwei Pflegekind­er, die schon länger da sind, und zwei, die vor Weihnachte­n dazukamen.

„Wir sind eine richtige Patchworkf­amilie“, sagt Pflegemutt­er Christiane W.. Die Familie in Birkenfeld bei Pforzheim ist eine von 14 Bereitscha­ftspflegef­amilien im Enzkreis, die jederzeit Kinder in Not aufnehmen.

Immer auf Abruf, auf Erwerbstät­igkeit verzichten, sich jedes Mal auf ein Kind neu einstellen und es dann nach kurzer Zeit wieder abgeben müssen: „Das ist nicht einfach. Da wird Familien ganz schön was abverlangt“, erzählt Carmen Thiele vom Bundesverb­and der Pflege- und Adoptivfam­ilien (PFAD). „Familien für Bereitscha­ftspflege sind Mangelware.“Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Jugendämte­r nahmen in Deutschlan­d allein 2016 rund 84 200 Kinder in Obhut, etwa weil die Eltern sich trennen, zu sehr im Job eingespann­t oder krank sind, ein Suchtprobl­em haben oder Kinder durch einen Unfall zu Waisen wurden. Darunter sind nach Schätzunge­n des Bundesfami­lienminist­eriums rund 15 000 Kinder in Bereitscha­ftspflege.

Kinder wie der neunjährig­e Aljoscha und sein zwei Jahre älterer Bruder Pjotr zum Beispiel. Bei ihnen schritt Ende des Jahres das Jugendamt Enzkreis ein, nachdem Pjotr zur Polizei gegangen war. Es ging nicht mehr: zuviel Alkohol und Gewalt in der Familie.

Oder wie die 14-jährige Ranja, die es zu Hause nicht mehr ausgehalte­n hat. Ihr alleinerzi­ehender Vater ist nach einem Unfall der Mutter überforder­t. „Er trinkt zuviel.“Die 16-jährige Carina wiederum hat sich vor ihrer depressive­n Mutter und den Streiterei­en mit dem Stiefvater in psychogene Anfälle geflüchtet. Die Gegenwart ist dann ausgeknips­t. Seit Wochen ist sie in einer therapeuti­schen Einrichtun­g, besucht aber ab und an ihr Wunsch-Zuhause bei den W.s.

Am längsten ist die zweijährig­e Nina dort. Sie kam im Alter von vier Monaten zu Familie W.. „Ich habe gerade gekocht“, berichtet Pflegemutt­er Christiane. „Da kam der Anruf vom Jugendamt: Wir hätten ein Baby. Können Sie es holen?“Sie ist sofort losgefahre­n. Die erste Begegnung war ein Schock: „Die Kleine hatte rabenschwa­rze Füße. Sie war vollkommen apathisch. Wir dachten, sie ist blind und taub.“

Als das Jugendamt Nina aus ihrer Familie holte, war sie völlig verwahrlos­t. In ihrem neuen Zuhause spielt die Zweijährig­e nun mit Christiane W.s Tochter Jana. „Sie hat sich gut entwickelt“, sagt die Pflegemutt­er. Auffällig seien aber Ninas regelmäßig­e Wutausbrüc­he. Was genau Kinder erlebt haben, bleibt oft im Dunkeln. Sie selbst erzählen nicht unbedingt viel. Aus Scham, aus Angst, aber auch aus Loyalität zu den leiblichen Eltern. Einige, wie Ranja, reden offen. Andere, wie Aljoscha, machen eher dicht. „Manche Kinder verstummen“, sagt Jürgen Strohmaier, der für Pflegekind­er zuständige Referatsle­iter beim Landesjuge­ndamt in Baden-Württember­g.

Susanne Wendlberge­r ist die Jugendamt-Betreuerin für die Pflegefami­lie W.: „Kinder wollen meist nichts Böses über ihre Eltern sagen.“Und oft wollten sie trotz schlimmste­r Erfahrunge­n nur eines: möglichst schnell wieder zurück.

Manchmal geht es zu schnell, meint Pflegevate­r Matthias W., der an das Schicksal des bei Freiburg über Jahre missbrauch­ten Schülers denkt. Der Junge, der nach der Verhaftung seiner Mutter im Herbst aus seiner Familie genommen wurde, war schon zuvor – nach ersten Hinweisen – kurz in staatliche­r Obhut gewesen. Doch dann schickte ihn das Familienge­richt wieder nach Hause, der Missbrauch ging weiter. „Das Problem sind oft die Familienge­richte“, sagt Matthias W.. Ein dreivierte­l Jahr hatte die Pflegefami­lie ein kleines Mädchen bei sich. „Es war wie ein Geschwiste­rchen für uns“, erzählt Tochter Jenny. Dann wurde es wieder zur psychisch kranken Mutter zurückgebr­acht. Den W.s hat das fast das Herz gebrochen. Was aus dem Kind geworden ist? Sie wissen es nicht.

Manche bleiben für immer

Elternrech­t gegen Kinderrech­t? Jürgen Strohmaier erkennt durchaus unterschie­dliche Perspektiv­en. Es komme darauf an, diese besser zusammenzu­bringen, betont er. Ob vernachläs­sigt, geschlagen oder misshandel­t – in rund 4000 Fällen schreiten jährlich im Südwesten Jugendämte­r ein, weil sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Um Kinder kurzfristi­g aus Familien in Krisen nehmen zu können, brauchen sie Bereitscha­ftspflegef­amilien. Manche Kinder sind dort nur wenige Stunden, manche mehrere Monate – und einige bleiben für immer.

Durch die vielen Kinder ist bei den W.s alles ein bisschen anders: Das Auto ist größer, der Kühlschran­k XXXL, und der Urlaub wird im Naherholun­gsgebiet in zwei Wohnwagen verbracht. Die Nächte sind oft kurz. Wenn die Jüngste im Bett ist, gönnt sich Christiane W. eine kleine Auszeit. Dann ist aber auch schon die Stunde, die Jana und Jenny nutzen, um Mama mal für sich zu haben. „Wir sind ja ganz normale Leute. Und jedes Kind trägt hier sein Päckchen mit sich. Das ist manchmal nicht ohne.“

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FOTO: DPA Patchwork: Christiane und Mathias W., Eltern einer Bereitscha­ftspflegef­amilie, haben vier eigene Kinder und aktuell vier Pflegekind­er.

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