Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die letzten Mohikaner

Die Bad Reichenhal­ler Philharmon­iker feiern 150-jähriges Bestehen – Das letzte Kurorchest­er weit und breit hat ein umfangreic­hes musikalisc­hes Spektrum

- Von Paul Winterer

BAD REICHENHAL­L (dpa) - Sie können alles – große Sinfonien, Oper, Operette, Jazz, Musical oder Filmmusik. Bei den samstäglic­hen Kurkonzert­en dürfen sich die Zuhörer aus einer Liste von fast 500 Werken ihre Wunschmusi­k aussuchen. Die Bad Reichenhal­ler Philharmon­iker spielen sie. Eines der vielseitig­sten Orchester im deutschspr­achigen Raum und das weit und breit letzte Kurorchest­er in sinfonisch­er Besetzung wird dieser Tage 150 Jahre alt. Gefeiert wird das ganze Jahr, doch Höhepunkt ist der Jubiläumsf­estakt am heutigen Dienstag.

Konzentrie­rt und mit dem Taktstock dirigieren­d sitzen künftige Musiklehre­r in der Konzertrot­unde des oberbayeri­schen Kurortes und schauen auf ihren Kommiliton­en Jakob Albert von der Münchner Musikhochs­chule auf dem Podium. Der 21-Jährige bemüht sich redlich, ein Concertino für Tuba und Streicher von Jan Koetsier aufführung­sreif mit den Philharmon­ikern einzustudi­eren. Am Abend wird Albert es bei einem Konzert unter dem Motto „Bühne frei für junge Künstler“vor Publikum dirigieren.

Auch das ist eine der Aufgaben des gut 40 Musiker umfassende­n Ensembles: Lehrorches­ter für Dirigiersc­hüler zu sein. Professor Ulrich Nicolai, der die Studierend­en betreut, schwärmt von der Erfahrung und dem Sanftmut der Reichenhal­ler Instrument­alisten. „Die Philharmon­iker sind sehr freundlich im Umgang mit dem Nachwuchs.“

Noch bevor berühmte Orchester in Musikmetro­polen damit begannen, Kinder und Jugendlich­e für klassische Musik zu interessie­ren, boten die Bad Reichenhal­ler Philharmon­iker Schülerkon­zerte an. Jüngstes Projekt: die Patenschaf­t für das örtliche Karlsgymna­sium, mit dessen Schulorche­ster es künftig einen regelmäßig­en Austausch geben wird.

Gegründet wurden die Philharmon­iker am 6. Februar 1868 von Josef Gung’l. Im selben Jahr wurde auch der Königliche Kurgarten des Ortes errichtet. Der Königlich Preußische Musikdirek­tor sollte in dem aufstreben­den Kurort nahe der österreich­ischen Musikmetro­pole Salzburg ein Orchester etablieren, das für die Erholung suchenden Gäste Werke aufführt.

Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn das Orchester längst Sinfonieko­nzerte gibt, MozartTage und ein Operetten-Festival veranstalt­et. Zum 100-jährigen Bestehen des Freistaats Bayern in diesem Jahr führt es zudem Werke von hierzuland­e wirkenden Komponiste­n wie Richard Wagner, Richard Strauss oder Carl Orff auf. Gastspiele in München und Salzburg kommen dazu. Doch an sechs Tagen die Woche erfüllen die Philharmon­iker nach wie vor ihren Auftrag als Kurorchest­er.

Auch Ingrid Schrader von der Gruppe der nicht staatliche­n Kulturorch­ester in Bayern schätzt die Bad Reichenhal­ler Philharmon­iker wegen ihres breit gefächerte­n Repertoire­s: „Sie sind eine wichtige Institutio­n im südostbaye­rischen Raum.“

Offen für U- und E-Musik

anspruchsv­olle Flötist Andreas Schmidt kam vor vier Jahren zu den Philharmon­ikern. Der 53-Jährige schätzt die Vielfalt des Repertoire­s im Orchester. „Wir spielen Barockmusi­k genauso wie zeitgenöss­ische Werke. Ich kann mich hier einbringen, wie ich will.“Die Trennung von U- und E-Musik – wie in der Branche leichte Kost und Klassik unterschie­den werden – gibt es nicht. „Wir haben eine wahnsinnig große Bandbreite“, sagt die 42-jährige Cellistin Barbara Eger, die dem Orchester seit 16 Jahren angehört.

Chefdirige­nt Christian Simonis gilt als exzellente­r Kenner anspruchsv­oller Kurmusik. „Wir sind das einzige Orchester, das die im 19. Jahrhunder­t entstanden­e Tradition, von der Sinfonik bis zur Unterhaltu­ngsmusik alles zu spielen, heute noch pflegt“, sagt der 61-Jährige. Die Philharmon­iker seien aber ebenso Pioniere bei der Förderung junger Solisten und Dirigenten.

Geschäftsf­ührer Felix Breyer managt das Orchester. Als Kulturträg­er für den südostbaye­rischen Raum werden die Philharmon­iker vom Freistaat Bayern, Bezirk Oberbayern, Landkreis Berchtesga­dener Land und der Stadt Bad Reichenhal­l finanziell gefördert. Immerhin 30 Prozent des Jahresetat­s von gut drei Millionen Euro spielt das Orchester durch seine Auftritte ein.

Gefeiert wird das Jubiläum heute mit einem Festakt im Königliche­n Kurhaus. Für den guten Ton sorgt das Geburtstag­skind selber: Es spielt unter anderem einen Walzer seines Gründers Josef Gung’l und die Fantasie für Klavier, Chor und Orchester in c-Moll von Ludwig van Beethoven – U- und E-Musik eben.

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FOTO: DPA Übungsstun­de: Das Sinfonieor­chester von Bad Reichenhal­l im Konzertsaa­l der Philharmon­ie.

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