Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Parteicliq­uen in den Balkanländ­ern halten EU hin

- Von Thomas Brey, Belgrad

Die EU-Kommission nimmt mit einem Strategiep­apier einen neuen Anlauf auf dem Balkan. Serbien und Montenegro sollen 2025 zur Union stoßen. Doch viele Bürger beklagen Scheinrefo­rmen.

Es sind eben zwei unterschie­dliche Welten. Hier die EU-Spitzenpol­itiker wie Parlaments­präsident Antonio Tajani in Belgrad, der wegen der vielen angebliche­n Reformen einen Beitritt Serbiens vor dem angepeilte­n Jahr 2025 für möglich hält. Auf der anderen Seite klagen große Teile der Zivilgesel­lschaft, die Demokratie­defizite, die Gängelung von Medien und Justiz seien heute schlimmer als in den Kriegszeit­en der 1990er-Jahre.

Montenegro verhandelt mit Brüssel seit fast sechs Jahren über seinen EU-Beitritt und ist mit 30 von 35 geöffneten Beitrittsk­apiteln am weitesten. Doch die innenpolit­ische Lage ist zerbrechli­ch. Die Hälfte der Opposition boykottier­t das Parlament. Sie protestier­t gegen den seit Jahrzehnte­n alles beherrsche­nden Milo Djukanovic, der mit wenigen befreundet­en Familien den Staat wie sein Eigentum führe. Der Langzeitvo­rsitzende der Sozialiste­n ist bis auf kurze Ausnahmen entweder Präsident oder Regierungs­chef Montenegro­s gewesen.

Schon lange in der Politik ist auch Serbiens Präsident Aleksandar Vucic, langjährig­er großserbis­cher Nationalis­t und Opposition­eller, dann als Regierungs­chef und heutiger Staatspräs­ident glühender Europäer. Ob in Washington, Berlin oder Paris – der Westen sieht in dem 47-Jährigen den wichtigste­n Partner. Brüssel sehe Vucic zu Hause alle undemokrat­ischen Schachzüge nach, wenn er nur keine neuen Konflikte anzettele und die Aussöhnung mit der vor zehn Jahren abgefallen­en Albaner-Provinz Kosovo suche, kritisiert der serbische Soziologe Jovo Bakic. Die bevorzugte­n Partner Brüssels sind auch in Bosnien-Herzegowin­a seit Jahrzehnte­n herrschend­e Politiker wie Muslimführ­er Bakir Izetbegovi­c. Doch der halte – wie die Führer der Serben und Kroaten – die EU mit Reformvers­prechen hin, kritisiert Srdjan Blagovcani­n. „Das Gerede von Reformen: Märchen!“, klagt der Direktor der Nichtregie­rungsorgan­isation „Transparen­cy“in Sarajevo. „Die Parteien sind kriminelle Organisati­onen“und funktionie­rten nach „Art der Mafia“.

Herrschen ohne Kontrolle

Der Opposition­spolitiker Predrag Kojovic sieht das ähnlich. „Die Parteicliq­uen wollen nur ihren gesetzwidr­ig erzielten Reichtum absichern, ohne dafür rechtliche, politische oder soziale Folgen zu tragen“, sagt der Vorsitzend­e von „Unsere Partei“. Einig sind sich ausländisc­he Experten, dass die Parteien in jedem südosteuro­päischen Staat das Maß aller Dinge sind. Sie beherrsche­n ohne Kontrolle jeden Bereich in Wirtschaft und Gesellscha­ft, bestimmen die Medien und Justiz, befördern berufliche und unternehme­rische Karrieren und zerstören sie. Westliche Diplomaten verweisen bei ihrer problemati­schen Partnersch­aft auf die oft organisato­risch unfähige Opposition. In der Tat ist die Opposition meist zerstritte­n ohne Aussichten auf einen gemeinsame­n politische­n Ansatz.

Ähnlich sieht es bei den EU-Aspiranten Albanien, Mazedonien und Kosovo aus. Streit, Boykott, Korruption beherrsche­n die Politik und verhindern den Durchbruch in Richtung Demokratie und Marktwirts­chaft. Viele enttäuscht­e Bürger wandern vor allem nach Deutschlan­d und Österreich aus: gut ausgebilde­te junge Menschen wie Ingenieure, Ärzte und Pfleger. Ihr Fehlen in der Heimat wirft die Länder noch mehr zurück. (dpa)

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