Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Tatverdächtiger als Gefährder bekannt
Nach Aufhebung des Haftbefehls stach er in Laupheim die 17-jährige Schwester nieder
LAUPHEIM (reis) - Der Bruder der am Donnerstag in Laupheim lebensgefährlich verletzten 17-Jährigen aus Libyen war schon vorher als Gefährder bekannt. Sowohl das Landeskriminalamt als auch das Stuttgarter Landesamt für Verfassungsschutz haben sich offenbar bereits vor dem Messerangriff auf die Schwester mit ihm beschäftigt. Grund waren die Anschlagspläne eines inzwischen verurteilten Syrers aus Biberach, der mit Tausenden Streichhölzern in Dänemark gefasst worden war.
LAUPHEIM - Die brutale Messerattacke auf eine 17-jährige, aus Libyen stammende Asylbewerberin in Laupheim am Dienstag vergangener Woche sorgt bundesweit für Gesprächsstoff. Die junge Frau ist mittlerweile außer Lebensgefahr. Medien berichten von einem versuchten Ehrenmord der beiden verhafteten Tatverdächtigen – dem 20-jährigen Bruder des Opfers und dem 34-jährigen angetrauten Ehemann nach islamischem Recht. Neben vielen anderen bleibt eine Frage offen: Hätte die Justiz die schreckliche Tat verhindern können?
Noch am Tag vor der Tat hatte der 20-Jährige in Fußfesseln in Saal 10 des Biberacher Amtsgerichts gesessen. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft warf dem seit August 2017 in Untersuchungshaft sitzenden jungen Mann vor, einem Bekannten bei der Vorbereitung eines islamistisch motivierten Attentats in Kopenhagen geholfen zu haben. Der Bekannte wurde mittlerweile zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Sowohl dieser als auch weitere Zeugen lieferten vor Gericht etliche Aussagen, die den ersten Angaben bei der polizeilichen Vernehmung teils deutlich widersprachen – und dadurch den 20-Jährigen entlasteten. Richter Ettwein und seine Schöffen sahen daraufhin den dringenden Tatverdacht, der eine Untersuchungshaft rechtfertigen würde, nicht mehr gegeben. Sie setzten den 20-Jährigen bis zum zweiten Verhandlungstag am 12. März auf freien Fuß. Mit fatalen Folgen.
Vorwürfe „auf dünnem Eis“
„Wenn man immer alles wüsste, was nachher passiert, wäre es einfacher“, antwortet Gerhard Bayer, Direktor des Biberacher Amtsgerichts, auf die Frage der „Schwäbischen Zeitung“, ob die Aufhebung des Haftbefehls am Montag auch rückblickend die richtige Entscheidung gewesen sei. „Aus meiner Sicht, anhand der Gespräche mit dem Richter und den vorliegenden Erkenntnissen aus den Akten, wurde richtig entschieden. Der hinreichende Tatverdacht, also eine hohe Wahrscheinlichkeit der Verurteilung, war aufgrund der Zeugenaussagen nicht mehr da. Die ganzen Vorwürfe lagen auf dünnem Eis.“
Keine Rolle spielte demnach die Tatsache, dass der Angeklagte vor zweieinhalb Jahren schon einmal mit der seinerzeit 15-jährigen Schwester aneinandergeraten war, sodass die Polizei in der damaligen Wohnung der Familie bei Laupheim eingreifen musste. Grund für den Streit soll die Heirat der Schwester gewesen sein, womöglich auch deren Zuneigung zu einem anderen Mann. Der Bruder musste daraufhin in eine Flüchtlingsunterkunft nach Biberach ziehen. Dieser Fall kam bei der Gerichtsverhandlung nur am Rande zur Sprache. „Er hat mit dem aktuellen Verfahren ja auch nichts zu tun“, stellt Gerhard Bayer klar. Davon abgesehen, habe der damalige Streit offenbar kein strafrechtliches Ausmaß gehabt. „Sonst wäre die Sache vor Gericht gelandet“, meint Bayer.
Kein Veto der Staatsanwaltschaft
Um dennoch eine Gefahr für die Schwester abzuleiten, wenn der Bruder aus der U-Haft entlassen wird, brauche es „hellseherische Fähigkeiten“, so Bayer – oder ein klares Veto der Staatsanwaltschaft: Die Schwester sei akut gefährdet. Das habe es aber nicht gegeben.
Zwar hatte sich Staatsanwältin Marie Fischer gegen eine Aufhebung des Haftbefehls gegen den Angeklagten ausgesprochen, aber nicht wegen des Geschwisterstreits. „Die Frage, ob weiterhin von einem dringenden Tatverdacht auszugehen ist oder nicht, war ausschließlich im Hinblick auf die Beweislage in dem vor dem Amtsgericht Biberach anhängigen Verfahren zu beurteilen“, bestätigt die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Sprich: Für die Staatsanwältin war der Angeklagte weiterhin dringend verdächtig, vom geplanten Attentat in Kopenhagen gewusst und folglich Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat geleistet zu haben. Bei dem fraglichen Einkauf von Hilfsmitteln für den Bau einer Bombe war der 20-Jährige dabei, wenngleich damals nur 760 von am Ende 17 000 Zündhölzern besorgt wurden.
Auch im Innenministerium sieht man den 20-Jährigen offenbar als „Gefährder“. Laut Medienberichten soll der junge Mann aus Libyen schon länger „auf dem Schirm“des Sonderstabs von Innenminister Thomas Strobl sein, der sich um die Abschiebung besonders krimineller Ausländer kümmert. Eine entsprechende Anfrage an das Innenministerium blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Nach jetzigem Stand wird das ursprüngliche Gerichtsverfahren gegen den 20-Jährigen wie geplant am 12. März fortgesetzt.