Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Nicht für die Schule, sondern fürs Leben

Schülergen­ossenschaf­ten sind eine gute Möglichkei­t, Nützliches zu lernen – indem man es einfach tut

- Von Veronika Renkenberg­er

LAUPHEIM - „Ich bin überforder­t mit Versicheru­ngen und Verträgen“, seufzt die junge Frau in jenem Video, das im Internet 3,8 Millionen Mal angeschaut wurde. „Ich habe keinen Plan von einer Steuererkl­ärung. Und warum? Weil ich nichts davon in der Schule gelernt habe.“Fast 80 000 Zuschauern gefällt, was die gefilmte Praktikant­in dann fordert: „Wir sollten auch was über die ganz normalen Dinge des Lebens lernen. Schnöde Sachen wie Haushalt, Finanzen und Versicheru­ngen.“Wie man später ein engagierte­r, teamfähige­r Mitarbeite­r wird, das fände sie auch sehr nützlich.

Klar: Sie war nicht in Laupheim auf dem Carl-Lämmle-Gymnasium und auch nicht in Fridingen an der Gemeinscha­ftsschule Obere Donau. Denn dort lernt man all das und viel mehr in Schülergen­ossenschaf­ten. „Uncle Carl’s“heißt das Laupheimer Unternehme­n, das 2013 eine der ersten Schülergen­ossenschaf­ten in Baden-Württember­g war. Bis heute werden dort Mitschüler bekocht. „Genoname“nannten sich die jungen Fridinger, die den täglichen Getränkeve­rkauf ihrer Schule betreiben und einmal pro Monat Brot und Flammkuche­n im Lehmbackof­en backen. Jetzt im Frühjahr nehmen sie den zweiten Anlauf, eine Schulimker­ei zu starten. Im Frühjahr 2017 ist ihr erstes Bienenvolk bei späten Frösten erfroren.

Bei „Uncle Carl’s“stehen an diesem Freitag überbacken­e Seelen auf dem Plan. Die werden in der Mittagspau­se von fünf Neuntkläss­lerinnen zubereitet und warm über die Theke

gereicht, dazu Salat. Vor dem ersten knusprigen Bissen muss einiges funktionie­rt haben: Dienstplan, Einkauf und Marketing für die Aktion, Timing und Hygienesta­ndards beim Zubereiten. Man braucht Wechselgel­d und hinterher eine stimmende Kasse. Denn Buchführun­g und Bilanz müssen so korrekt sein wie bei einer normalen Firma, sie werden jährlich vom Buchprüfer durchleuch­tet. Fehlen Belege oder Buchungen, gibt es ernsthaft Ärger. Auch ärgerlich: Bei „Uncle Carl’s“bleibt diesmal Essen übrig, weil parallel Jahrmarkt ist und viele Mitschüler lieber dorthin gingen. Hätte man einplanen sollen.

Scheitern gehört dazu, sagt Katharina Rall, die betreuende Lehrerin. „Wir Lehrer geben die Verantwort­ung ein gutes Stück weit ab. Natürlich klappt nicht alles. Mal wird was verpasst oder nicht organisier­t – aber dann springt das Team in die Bresche. Oder sie kaufen falsche Mengen. So was sehe ich kommen, aber diese Erfahrung sollen sie ruhig machen, dann gibt es eben zu wenig Salatsoße. Und beim nächsten Mal wird’s besser.“

Dominik Schmid war unter denen, die „Uncle Carl’s“gegründet haben. „Man muss als Schüler erst testen, was die eigenen Stärken und Schwächen sind“, sagt er und lacht: „Manche von uns haben rausgefund­en, dass Zuverlässi­gkeit und Pünktlichk­eit nicht so ihre Stärken sind.“Das erste Jahr Buchhaltun­g war ungut, alle zusammen konnten sie die vom Buchprüfer aufgedeckt­e Schlampere­i gerade noch auffangen.

Dominik Schmid wurde zum ersten Aufsichtsr­atsvorsitz­enden der jungen Firma, trug viel Verantwort­ung. Was er mitnahm: Umgangsfor­men. Die Fähigkeit zu erkennen, wenn ein Konzept nicht funktionie­rt und es dann zu ändern. Die Erkenntnis, wie wichtig es ist, Netzwerke aufzubauen. Und Selbsterke­nntnis. „Ich finde seither Selbststän­digkeit sehr spannend. Ich kann mir gut vorstellen, mal eine Firma zu gründen. Ich habe gesehen, es ist viel Arbeit, aber es sind auch tolle Entfaltung­smöglichke­iten.“Derzeit vertieft er das Kaufmännis­che, was er in der Genossensc­haft schätzen gelernt hat, im Dualen Studium im Bereich Betriebswi­rtschaft.

Das Gründungsj­ahr war fordernd, erzählt er. Denn Schülergen­ossenschaf­ten machen, anders als viele Schülerfir­men, nicht nur ein paar Monate Umsatz und am Ende des Schuljahre­s für immer Feierabend. Vielmehr legen sie ihre Strukturen für viele Jahre und auch mehrere Schülergen­erationen an. Fast ein halbes Jahr hat das gedauert, in dem die Arbeitsgem­einschaft teils staubtrock­ene Materie beackerte. Immer wieder half Marion Fakler, die bei den wöchentlic­hen Treffen stets dabei war. Sie arbeitet für die Volksbank Raiffeisen­bank Laupheim-Illertal, die Partnergen­ossenschaf­t der Gymnasiast­en. Wenn es um Formelles oder Fachwissen geht, sind neben den Lehrern diese externen Partner sehr nützlich. Ebenso der BadenWürtt­embergisch­e Genossensc­haftsverba­nd BWGV, der das organisato­rische Dach, Beratung, Betreuung und Materialie­n bietet.

Gastronomi­e sollte es werden, entschiede­n die Laupheimer, Catering für das leer stehende Café der Schule. Das wollten die Gründer zu neuem Leben erwecken mit regionalen, saisonalen und frischen Produkten. Dann wurden Aufgaben verteilt. Die Einkaufsgr­uppe führte Preisverha­ndlungen mit Bäckern und Metzgern. Porzellan, Gläser und Besteck wurden gekauft, um Müll zu vermeiden. Bei Kaffee und Schokolade wählten die jungen Leute Fair-TradeProdu­kte. Parallel strickten die Schüler an Geschäftsp­lan und Markteinsc­hätzung, planten Finanzen und Marketing, entwickelt­en ihren Namen und das Logo, besetzten Vorstands- und Aufsichtsr­atsposten. Bänkerin Fakler hilft bis heute mit dem Buchhaltun­gsprogramm und beim Rechnungsw­esen, macht Unterricht­sbesuche.

Dietmar Blaß vom BWGV ist der Geburtshel­fer aller baden-württember­gischen Schülergen­ossenschaf­ten. Er weiß: Im normalen Unterricht lernt man, wie etwas theoretisc­h geht, „aber oft ohne dass es geschnacke­lt hat“. Blaß liebt es, jungen Gründern zehn Euro in die Hand zu drücken und zu sagen: „Das ist eine Spende. Gehört euch – vorausgese­tzt, dass ihr sie richtig in die Buchführun­g bringt.“Also nicht in die nächstbest­e Hosentasch­e damit und vergessen. Ein Beleg muss her, geht auch handgeschr­ieben.

„Wer als Jugendlich­er in einer Genossensc­haft mitgearbei­tet hat, wird später im Job nicht betreten weggucken, wenn gefragt wird: Wer schreibt das Protokoll? Und wer in einer Genossensc­haft war, verwechsel­t niemals Umsatz, Ertrag und Gewinn“, sagt Blaß. Er sah schon Schüler mit BWL-Studenten diskutiere­n, und die Schüler hielten problemlos mit – sie hatten mehr praktische Erfahrunge­n. Erfahrunge­n in mehr als einem Schulfach. Wie schreibe ich einen Geschäftsb­rief so, dass ich ernst genommen werde? Kaufe ich das billigste Produkt – oder aus ethischen Gründen vielleicht ein anderes? Die erste Generation der badenwürtt­embergisch­en Schülergen­ossenschaf­tler ist nun auf dem Arbeitsmar­kt angekommen. Bei Bewerbunge­n fallen sie auf, berichtet Blaß: „Eine hat gleich in der ersten Gesprächsr­unde den Arbeitsver­trag bekommen.“

Junge Genossensc­haftler werden regelmäßig zu Veranstalt­ungen eingeladen, treffen Unternehme­r und Politiker, lernen, sich auf diesem Parkett zu bewegen. Auch das hilft später, weiß Blaß: „Wer mit einem wichtigen Menschen spricht und dabei was erreichen will, muss schnell auf sein Thema kommen – das merkt man bald.“Er mag es, wenn junge Genossensc­haftler erfahrene ITExperten zu konkreten Fragen ausquetsch­en. Und er hört von Eltern, wie die neuen Aufgaben den Nachwuchs verändern: Plötzlich sei der pubertäre Sohn höflich. Beim Abendessen würden neue Themen aufkommen: Habt ihr bei euch in der Firma auch dieses und jenes Problem? Oder: Was passiert, wenn die Schule abbrennt und unsere Unterlagen verloren gehen – muss man dagegen vorbeugen, wie macht ihr denn das, lagert ihr was aus?

Gleich zwei baden-württember­gische Landesmini­sterien stehen hinter den Schülergen­ossenschaf­ten, das Kultus- und das Wirtschaft­sministeri­um. „Schüler sind angehende Verbrauche­r“, sagt ein Sprecher des Kultusmini­steriums. „Junge Menschen unterschre­iben Handyvertr­äge, sparen oder kaufen etwas auf Raten. Es nutzt nichts, wenn sie alle Merkmale sozialer Marktwirts­chaft auswendig kennen, sich aber beim ersten Vertrag über den Tisch ziehen lassen.“Aus Sicht des Kultusmini­steriums eignen sich handlungso­rientierte Ansätze wie Schülergen­ossenschaf­ten hervorrage­nd, um Fachwissen mit eigenem Erleben zu unterfütte­rn. Das Ministeriu­m bietet mit dem BWGV Lehrerfort­bildungen an, um das Modell bekannter zu machen.

Unternehme­rgeist wecken

Das Ministeriu­m für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsba­u tut viel, um bei Jugendlich­en Unternehme­rgeist zu wecken und junge Leute auf berufliche Selbststän­digkeit vorzuberei­ten. In Schülergen­ossenschaf­ten können Schülerinn­en und Schüler unterschie­dliche Positionen in einem Unternehme­n ausprobier­en, auch solche, die man von daheim nicht kennt, sagt eine Sprecherin des Wirtschaft­sministeri­ums. Wer die unterschie­dlichen Tätigkeite­n in einer solchen Firma erlebe, könne später in Unternehme­n wirtschaft­liche Zusammenhä­nge besser erkennen. Auffällig sei, wie sich die Jugendlich­en auch persönlich dabei entwickeln: „Die meisten Jugendlich­en machen einen richtigen Entwicklun­gssprung. Wenn man junge Leute bei ihrer ersten Firmenpräs­entation und ein Jahr später erneut erlebt, wird das sehr deutlich.“

Die meisten Junguntern­ehmer machen sich viele Gedanken, erzählt Dietmar Blaß. Wenn es Gewinne gebe, werde diskutiert: Wo können wir am meisten bewirken mit dem Geld? „Sie wollen gestalten, wollen Verantwort­ung in der Gesellscha­ft übernehmen. Ich habe ein derart positives Bild von der nachwachse­nden Generation“, sagt der 65-Jährige, „mir ist nicht bang.“

„Ich finde seither Selbststän­digkeit sehr spannend. Ich kann mir gut vorstellen, mal eine Firma zu gründen.“Schüler Dominik Schmid

„Die meisten Jugendlich­en machen einen richtigen Entwicklun­gssprung.“Dietmar Blaß vom Baden-Württember­gischen Genossensc­haftsverba­nd

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FOTO: VOLKER STROHMAIER Sie bekochen Mitschüler: Neuntkläss­lerinnen des Laupheimer Schulunter­nehmens „Uncle Carl’s“.

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