Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Chemothera­pie für Hunde und Katzen

Wie weit kann und soll der Mensch gehen, um sein geliebtes Tier zu retten?

- Von Stefanie Walter

GIESSEN (epd) - Der beigefarbe­ne Hund steht schwanzwed­elnd auf dem Behandlung­stisch, sein Brustkorb ist in dicke Bandagen gepackt. Er kommt gerade von der Röntgenunt­ersuchung. „Wir haben geguckt, ob die Speiseröhr­e noch gelähmt ist und wie sich die Lungenentz­ündung entwickelt“, sagt Tierarzt Alexander Acker. Der Golden Retriever, mit zehn Jahren nicht mehr ganz jung, hat eine schwere Operation hinter sich: Veterinärm­ediziner der Uni Gießen entfernten an seiner Speiseröhr­e einen großen Tumor.

Ebenso wie die Humanmediz­in macht die Tiermedizi­n rasante Fortschrit­te. Computerto­mographie, Chemothera­pie bei Krebs, Herzschrit­tmacher für Hunde, Einsetzen von Implantate­n, künstliche Harnleiter – vieles ist heute möglich, was vor einigen Jahren undenkbar schien. „Wir haben Neurochiru­rgen, Orthopäden und sogar Experten für Koi-Fische an der Klinik“, sagt der Chef der Kleintierc­hirurgie an der Gießener Veterinärk­linik, Martin Kramer.

Tierarzt Acker ruft am Computer ein Bild auf, das den Tumor des Retrievers zeigt: Er ist fast so groß wie das Herz. Die Veterinäre mussten für die OP den Brustkorb aufschneid­en, was „relativ invasiv und auch schmerzhaf­t“war, wie Acker erklärt. Natürlich bekam der Hund ausreichen­d Schmerzmit­tel. Trotzdem könnte man fragen: Muss so eine Operation wirklich sein?

Der Tierethike­r Peter Kunzmann von der Stiftung Tierärztli­che Hochschule Hannover, katholisch­er Theologe und Philosoph, sieht eine Linie, an der sich Mediziner und Besitzer orientiere­n können: „Tue ich dem Tier etwas Gutes, ist es ihm zuträglich?“Anschließe­nd müsse man fragen: „Sind Ressourcen vorhanden?“Die moderne Hochleistu­ngsmedizin ist teuer, und anders als in der Humanmediz­in springt bei Tieren keine Krankenkas­se ein – es sei denn, der Besitzer hat extra eine Versicheru­ng abgeschlos­sen. Tierhalter brauchen also Geld und nach der Operation Disziplin und Geduld bei der Versorgung. Schließlic­h, sagt Kunzmann, folge die Frage: Wenn diese Ressourcen nicht da sind, kann man sie vermehren?

Die Behandlung des Retrievers wird etwa 3000 Euro kosten, schätzt Acker. „Wer war früher bereit, so viel Geld für ein Tier auszugeben? Aber der Stellenwer­t des Tieres ist heute ganz anders.“In Hannover, berichtet Kunzmann, habe eine Doktorandi­n für ihre Promotion Besitzer gefragt, ob ihr Hund oder ihre Katze ein vollwertig­es Familienmi­tglied sei. 90 Prozent der Befragten stimmten dem zu. „Die Tiere sind oft Menschener­satz“, sagt auch Kramer.

Soll man aber überhaupt so viel für ein Tier ausgeben? Ja, meint Tierethike­r Kunzmann. Man könne es genauso hinterfrag­en, wenn Leute ihr Geld in ein teures Auto oder exotische Urlaube stecken.

Zwei Tierärztin­nen bringen den Retriever weg, der Hund folgt ihnen, er sieht – zumindest aus menschlich­er Sicht – froh aus. Acker ist zufrieden, „ihm geht’s sehr gut“. Trotzdem ist noch unklar, ob der Tumor nicht vielleicht bösartig war. Sogar eine Chemothera­pie sei heutzutage möglich, allerdings laufe sie anders ab als beim Menschen, erklärt Acker. „Es geht nicht darum, den Tumor komplett zu entfernen, sondern um Lebensverl­ängerung.“Die Medikament­e sind schwächer dosiert, sodass dem Tier keine Haare ausfallen und ihm auch nicht schlecht wird. „Aber theoretisc­h könnte man die Medikament­e höher dosieren, mit denselben Nebenwirku­ngen wie beim Menschen.“

Der Wunsch zu leben

Die Ultima Ratio sei das Einschläfe­rn, sagt Ethiker Kunzmann. Wie schwierig das für manchen Tierbesitz­er ist, beschreibt die Philosophi­n und Veganerin Hilal Sezgin, die in Niedersach­sen einen Gnadenhof betreibt. Sie schildert in ihrem Buch „Artgerecht ist nur die Freiheit“das Sterben ihrer Henne Keira mit drastische­n Worten. „Nach ein paar Tagen rief ich den Tierarzt zur Euthanasie. Kurz bevor der Tierarzt kam, bewegte sich Keira plötzlich wieder und fraß ein ihr dargeboten­es gekochtes Ei mit Begeisteru­ng.“Immer wieder mobilisier­te sie letzte Lebenskräf­te. „Da flackerte er ganz deutlich auf, dieser Funke, dieser Wunsch zu leben.“

Veterinär Acker sieht sich den Tieren verpflicht­et. Sein Beruf sei Berufung, sagt er, er müsse nachts gut schlafen können. Er appelliert an Tierhalter: Wer sich ein Tier anschaffen wolle, mit all den heute großen Kosten und Pflichten und Fragen, solle sich das gut überlegen. „Ich nehme viel Verantwort­ung auf mich, wenn ich ein Tier halte.“

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FOTO: EPD Die Tiermedizi­n macht rasante Fortschrit­te.

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