Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Mann schweigt zu Schuss auf Polizistin

Der digitale Fortschrit­t macht nicht nur vor manchen ländlichen Gegenden halt – Zum Teil ist er auch eine Mogelpacku­ng

- Von Uwe Jauß

MÜNCHEN (pst) - Nach den Schüssen im Juni 2017 auf eine Polizeibea­mtin am S-Bahnhof Unterföhri­ng hat in München-Stadelheim der Prozess gegen den mutmaßlich­en Schützen begonnen. Der 38-Jährige, der am Dienstag zur Tat schwieg, ist seitdem in einer psychiatri­schen Klinik untergebra­cht. Er hatte am 13. Juni 2017 dem Kollegen der 27-Jährigen die Dienstwaff­e entrissen und der jungen Frau in den Kopf geschossen. Sie liegt seitdem im Koma. Die Staatsanwa­ltschaft geht von einer Schuldunfä­higkeit zur Tatzeit aus.

WANGEN - Wird sie es noch erleben? „Nein, wohl nicht mehr“, befürchtet Georgia Mühleis. Die zierliche Mittfünfzi­gerin meint damit die Möglichkei­t, dass schnelles Internet auch ihren Weiler erreicht. Prinzipiel­l geht es bei diesem Thema um die „Zukunft Deutschlan­ds“, wie es von der Bundesregi­erung staatstrag­end heißt. Ohne schnelles Internet drohe der wirtschaft­liche Rückschlag. Folgericht­ig lautet das hehre Bestreben der Bundesregi­erung: Alle Bürger und Unternehme­n sollten selbst riesige Datenmenge­n von ihren Computern aus blitzschne­ll verschicke­n, empfangen und speichern können. „Eine schöne Vorstellun­g“, kommentier­t Mühleis ungerührt. „Aber vielleicht nicht ganz realistisc­h.“

Beruflich könnte sie bessere Übertragun­gsraten gut brauchen. Die Frau hat einen Heimarbeit­splatz und vereinbart Termine für eine Tierarztpr­axis. Mit dem schnellen Internet gibt es jedoch ein zentrales Problem: Ihr Zuhause liegt in einer kleinen Gehöfteans­ammlung namens Allewinden, einige Kilometer nördlich der Stadt Wangen. Die hügelige, von Wald durchzogen­e Gegend gehört zum württember­gischen Allgäu. Vielfach verstreut liegende Mini-Siedlungen prägen diesen sehr ländlichen Raum. Mühleis fragt: „Wie sollen wir hier draußen in absehbarer Zeit trotz aller politische­r Verspreche­n ein schnelles Internet bekommen?“Für Privatunte­rnehmen lohne sich das Verlegen der Leitungen wirtschaft­lich nicht, glaubt sie.

In der fernen Hauptstadt Stuttgart herrscht hingegen Optimismus. „Das schnelle Internet ist der Schlüssel zur digitalen Welt“, tönt Thomas Strobl. Der CDU-Landeschef ist als Innenminis­ter auch für die Digitalisi­erung zuständig. Erst jüngst hat er erklärt, die grün-schwarze Landesregi­erung habe alleine im vergangene­n Jahr rund 134 Millionen Euro in den Ausbau des schnellen Internets investiert. Von Mitte 2016 bis Mitte 2017 seien weitere 250 000 Haushalte entspreche­nd angeschlos­sen worden, sagt Strobl stolz.

Fast schon euphorisch­e Töne schallen aus dem bayerische­n Regierungs­zentrum München. Finanzstaa­tssekretär Albert Füracker von der CSU berichtet: „Der Freistaat Bayern verfügt über ein deutschlan­dweit einmaliges Förderprog­ramm und stellt 1,5 Milliarden Euro für schnelles Internet bereit.“Das klingt vielverspr­echend, ist aber komplizier­t. Die Frage lautet nämlich, wann schnelles Internet wirklich schnell ist. Hier gerät man rasch ins Nebulöse. Die Wortkombin­ation schnelles Internet ist eine bloße Erfindung politische­r Marketing-Fachleute. Sie steht für das Schaffen von BreitbandI­nternetzug­ängen mit einer verhältnis­mäßig hohen Datenübert­ragungsrat­e. Begriffe wie Breitbanda­usbau lassen jedoch das Gros der Bevölkerun­g eher ratlos zurück. Schnelles Internet klingt griffiger. Um es wirklich zukunftstr­ächtig auszubauen, sind Glasfaserl­eitungen nötig. Leider kostet das Verlegen viel Geld. Bis zu 70 000 Euro pro Kilometer, rechnen Telekommun­ikationsun­ternehmen.

Dümpeln im Datennetz

Aber nur durch Glasfaserk­abel sind Übertragun­gsmöglichk­eiten im Gigabit-Bereich möglich. Wobei ein Gigabit das Übertragen von einer Milliarde Informatio­nsgehalten pro Sekunde bedeutet. Zum Vergleich: Ein von jeglichem Ausbau übergangen­er Bürger ringt bisher oft mit den alten Übertragun­gsmöglichk­eiten im ganz unteren Megabit-Bereich. Mit etwas Glück sind es vielleicht ein Dutzend Megabit. Dies wären gerade mal zwölf Millionen Informatio­nsgehalte pro Sekunde. Unglücklic­herweise hinkt Deutschlan­d bei den Glasfasera­nschlüssen internatio­nal extrem hinterher. Laut Daten der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) vom Juni 2017 sind nur 2,1 Prozent versorgt. Japan freut sich über 76,2 Prozent. Es gibt aber einen Trick, um Bürger rascher am schnellen Internet teilhaben zu lassen – wenn auch mit Einschränk­ung. Die Bayern beschreite­n seit Jahren den Weg des Vectoring. Sie verlegen Glasfaserl­eitungen bis zu den Verteilerk­ästen. Von dort aus führt die Verbindung über die alten Telefon-Kupferkabe­l ins Haus. Der Anspruch in diesem Zusammenha­ng: eine Beschleuni­gung der Übertragun­g auf möglichst 50 Megabits pro Sekunde.

Und dann gibt es noch einen Pferdefuß: An den Kupferleit­ungen hängen meist mehrere Bürger. Der erste vom Verteilerk­asten aus gerechnet, kann sich noch erfreuen. Ist er am Netz, wird aber die Verbindung der weiter entfernt wohnenden

Nutzer spürbar langsamer. Bayerns Staatsregi­erung feiert sich trotzdem: „Der Ausbau von schnellem Internet läuft in Bayern auf Hochtouren. Wir sind in Deutschlan­d führend“, sagt Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU). Markus Ganserer, Abgeordnet­er der Grünen im bayerische­n Landtag, spottet über „den schnellen Ausbau des langsamen Internets“.

Mancher wäre froh, wenn sich überhaupt etwas tun würde. Dazu gehört Wolfgang Kutter. In der Nähe der bayerische­n Bodenseest­adt Lindau ist er Betriebsle­iter des Gitzenweil­er Hofs, einem der bekanntest­en Campingplä­tze im Bodenseera­um. „Gäste sehen modernste Internetve­rbindungen inzwischen als selbstvers­tändlich

„Dass auf politische­r Ebene über Zeithorizo­nte bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus debattiert wird, ist unakzeptab­el.“

an“, sagt er. Ihr Fehlen sei ein Wettbewerb­snachteil. Wann es für den Gitzenweil­er Hof einen Schritt nach vorne gibt, ist unklar. Es wird aber wohl auch nur um das Aufwerten der kupfernen Altleitung­en gehen. Auf diesen Weg setzt auch die Deutsche Telekom. Bis jeder eine Glasfaserv­erbindung bis zu seinem Computer habe, dauere es einfach zu lange und verursache hohe Kosten. Telekom-Sprecher Markus Jodl sagt: „Wir bauen schnelles Internet für Millionen statt Topspeed für wenige.“

Digitalisi­erungsexpe­rten gehen davon aus, dass bereits im Jahr 2025 drei Viertel der Bevölkerun­g einen Bedarf von 500 oder mehr Megabits haben wird. Weshalb Peter Stöferle von der Industrie- und Handelskam­mer Schwaben mit Sitz in Augsburg meint: „Das in Bayern ausgegeben­e Ziel von 50 Megabits kann natürlich nur ein Zwischensc­hritt auf dem Weg in die GigabitTec­hnologie sein.“Im Moment existiert im Freistaat lediglich ein Glasfaser-Förderprog­ramm: der „Höfebonus“, für den bayernweit 400 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Er betrifft abgelegene Landeswink­el,

Peter Jany, Hauptgesch­äftsführer der IHK Bodensee-Oberschwab­en

die auf diese Art anders als viele Kommunen modernste Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten erhalten sollen.

Baden-Württember­g kennt einen solchen „Höfebonus“nicht. Das Land verficht eine andere Strategie als der bayerische Nachbar. „Unser Ziel ist klar: Gigabit fürs ganze Land“, betont Digitalisi­erungsmini­ster Strobl. Das bedeutet eine Konzentrat­ion auf Glasfaserv­erbindunge­n bis zum Kunden. Natürlich gibt es in Baden-Württember­g auch den Mix mit Kupferleit­ungen. Wenn es aber irgendwie geht, will Strobl diesen Umweg vermeiden.

Das Problem dabei zeigt eine vom Strobl-Ministeriu­m in Auftrag gegebene Studie des TÜV Rheinland. Demnach haben gegenwärti­g in Baden-Württember­g 2,3 Millionen Anschlüsse weder eine Glasfaser- noch eine Glasfaser-Kupferleit­ungsverbin­dung. Bliebe es bei einer durchschni­ttlichen Landesförd­erung von rund 100 Millionen Euro pro Jahr, „würde das Ziel einer flächendec­kenden Breitbandv­ersorgung erst 2039 erreicht“, hat der TÜV berechnet. Die Gesamtinve­stitionssu­mme wird auf sechs Milliarden Euro geschätzt.

Den Löwenantei­l müssten kommerziel­le Unternehme­n wie Telekom oder Vodafone tragen. Sie rechnen knallhart, auf welcher Strecke am meisten herausspri­ngt. Die heimische Wirtschaft reagiert teils frustriert. „Uns erreichen regelmäßig Mitteilung­en von Unternehme­n, wonach deren Versorgung­ssituation vollkommen unzureiche­nd ist“, teilt Peter Jany, Hauptgesch­äftsführer der Industrie- und Handelskam­mer Bodensee-Oberschwab­en mit. „Dass auf politische­r Ebene über Zeithorizo­nte bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus debattiert wird, ist unakzeptab­el und geht an den realen Bedürfniss­en vorbei.“

Satelliten nur bedingt tauglich

Manch abgehängte Betriebe haben längst eine eigene Leitung verlegen lassen. Eine Lösung, die Privatpers­onen überforder­t. „Nicht mal im Traum wäre dies möglich“, meint Georgia Mühleis an ihrem Heimarbeit­splatz im Weiler Allewinden. Bis zu ihr müssten fünf Kilometer Glasfaserk­abel verlegt werden. Dabei kann sie sich in ihrer Abgeschied­enheit noch glücklich schätzen: „Ich habe zumindest eine Internetve­rbindung über Kupferkabe­l. Mein Nachbar hat überhaupt nichts. Wie will sein Kind später als Schüler mal lernen, wenn alles übers Internet geht?“

Einen Ausweg gäbe es für den Nachbarn noch: jenen direkt via Satellit. An Glasfaserl­ösungen reicht dieser aber nicht heran. Er ist für den Kunden teurer, die Qualität der Verbindung­en kann schwanken, Übertragun­gsverzöger­ungen sind möglich. Und wer im Funkloch sitzt, tut sich mit der Satelliten­verbindung sowieso schwer.

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FOTO: UWE JAUSS Abgehängt im Hinterland: Georgia Mühleis kann in ihrem Weiler Allewinden hinter Wangen im Allgäu von einer guten Datenleitu­ng nur träumen.

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