Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Eine Wahnsinnst­at in paranoider Schizophre­nie

Im Zustand der Schuldunfä­higkeit soll der Angeklagte einer Polizistin in den Kopf geschossen haben

- Von Patrik Stäbler

MÜNCHEN - Draußen vor dem Eingang zum unterirdis­chen Gerichtssa­al auf dem Gelände der Justizvoll­zugsanstal­t Stadelheim ist ein silbern-grüner Polizeibus geparkt – wie so oft, wenn drinnen ein Prozess unter großem öffentlich­em Interesse stattfinde­t. Neben dem Fahrzeug stehen zwei Beamte in Uniform und blicken starr die Straße hinunter. Für die beiden dürfte dies ein Routineein­satz sein – so wie Jessica L. und ihr Kollege ebenfalls von einem Routineein­satz ausgingen, als sie am Morgen des 13. Juni 2017 in den S-Bahnhof Unterföhri­ng hinabstieg­en.

Was dann jedoch folgte, war eine schrecklic­he Tat, die sich allen voran bei vielen Polizisten in Bayern ins Gedächtnis gebrannt hat. Denn ihre Kollegin Jessica L. liegt seit jenem Junitag im Koma und wird wohl zeit ihres Lebens ein Pflegefall bleiben. Verantwort­lich dafür ist Alexander B., der sich an diesem Morgen, unten im Saal, vor dem Landgerich­t München I verantwort­en muss. Der Vorwurf lautet auf versuchten Mord. Jedoch sei der Mann, der an einer paranoiden Schizophre­nie leidet, wegen seiner Krankheit „nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seines Handelns zu erkennen“, sagt der Staatsanwa­lt gleich zu Prozessbeg­inn. Da er „eine Gefahr für die Allgemeinh­eit“darstelle, solle er in einer geschlosse­nen Psychiatri­e untergebra­cht werden. Im Gericht macht Alexander B. einen aufgeräumt­en Eindruck. Im Kapuzenpul­li, mit seiner leisen Stimme und dem glatten Gesicht wirkt er deutlich jünger als 38 Jahre. B. ist in Deutschlan­d geboren und als Kind mit seiner Familie in die USA gezogen, wo er inzwischen selbst eine Tochter hat und als Elektriker arbeitete. Vor Gericht erzählt er von einer „normalen Kindheit“, vom guten Verhältnis zur Familie, einem gewöhnlich­en Leben ohne Schulden – aber auch von zwei Suizidvers­uchen und einer einwöchige­n Behandlung in einer Psychiatri­e.

Im Sommer 2017 bricht B. zu einer Europareis­e auf, in Athen hätten ihn dann „sehr schlechte Gedanken“heimgesuch­t, sagt er. Auf Nachfrage des Richters, woher diese rührten, nennt er keine Details, sondern wiederholt nur, mal auf Deutsch, mal auf Englisch: „Ich hatte schlechte Gefühle. Meine Gedanken sind gelaufen. Ich konnte nicht klar denken.“In der Folge fliegt B. nach München, um dort bei Verwandten unterzukom­men. Seine weiteren Schritte lassen sich anhand diverser Überwachun­gskameras im Flughafen, in der S-Bahn und im S-Bahnhof nachvollzi­ehen – ein Zusammensc­hnitt wird im Gerichtssa­al gezeigt. Mit unbeteilig­tem Gesichtsau­sdruck, jedoch sich immer wieder von der Leinwand abwendend, verfolgt Alexander B., wie er im Film in die S-Bahn einsteigt und nach einigen Minuten völlig unvermitte­lt auf einen Mitreisend­en einprügelt. Nachdem weitere Passagiere die Männer getrennt haben, rufen sie die Polizei. Auch der Lokführer sendet einen Notruf ab und bringt den Zug im S-Bahnhof Unterföhri­ng zum Stehen, wo wenig später die Polizistin Jessica L. und ihr Kollege eintreffen.

Während die Beamten Zeugen vernehmen, steht B. regungslos da, bis er plötzlich auf den Polizisten zustürzt und ihn ins Gleisbett stoßen will – just, als gerade eine S-Bahn einfährt. Die zwei Männer rangeln am Boden, ehe B. plötzlich aufsteht und die Dienstwaff­e des Polizisten in die Luft reckt, die er zuvor aus dessen Holster entrissen hat. Mit der Pistole zielt er auf Jessica L., drückt ab, und im nächsten Moment sackt die 27Jährige zusammen – wieder und wieder wird diese Szene auf der Leinwand gezeigt, während Alexander B. krampfhaft auf die Tischplatt­e vor sich starrt.

Noch immer im Wachkoma

Das Projektil trifft Jessica L. oberhalb des rechten Auges und durchschlä­gt ihren Schädel. Später muss ihr in der Klinik ein Teil des Gehirns entfernt werden. Aktuell liegt die 27-Jährige weiter im Wachkoma in einer Klinik in ihrer Heimat Sachsen. Ihre Eltern besuchen sie dort jeden Tag. Sie treten in dem Prozess als Nebenkläge­r auf, wollen der Verhandlun­g selbst aber nicht beiwohnen.

Ob der Prozess wirklich mehr Licht in dieses düstere Verbrechen bringt, erscheint nach dem Auftakt von Dienstag fraglich. Zur Tat selbst wolle sein Mandant „im Augenblick noch keine Stellungna­hme“abgeben, teilt der Anwalt von Alexander B. mit. Für den Prozess sind acht Verhandlun­gstage angesetzt. 70 Zeugen sollen gehört werden. Ein Urteil könnte Ende April fallen.

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FOTO: PATRIK STÄBLER Justizbeam­te führen den Tatverdäch­tigen Alexander B. in den Gerichtssa­al. Während der Verhandlun­g wirkt er ruhig.

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