Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Schulte überrascht mit Rang vier
Beim Eurovision Song Contest wird der deutsche Kandidat Michael Schulte Vierter – Gewinnerin ist Netta aus Israel
LISSABON (dpa) - Deutschland hat mit Michael Schulte beim Eurovision Song Contest überraschend Rang vier belegt. Israel holte mit der Sängerin Netta in der Nacht zum Sonntag den Sieg. Für Deutschland ist es die beste Platzierung seit Lenas Sieg 2010. Zuletzt war Deutschland stets ganz weit hinten gelandet.
RAVENSBURG - Ein vierter Platz, der sich wie ein Sieg anfühlt: Nach langen Jahren im Tal der Tränen konnte sich Deutschland beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) wieder über einen Punkteregen freuen. Michael Schulte schaffte mit „You Let Me Walk Alone“den größten Erfolg, seit Lena im Jahr 2010 mit „Satellite“den Wettbewerb gewann. Auf Platz 1 landete Netta für Israel mit dem „Sei Du selbst“-Song „Toy“.
Neben „Toy“war im Vorfeld der zypriotische Beitrag „Fuego“von Eleni Foureira hoch gehandelt worden, der – allerdings mit fast 100 Punkten Abstand – dann auch auf Platz 2 landete. Klingt nach einem berechenbaren Ausgang, allerdings war der diesjährige ESC-Abend so spannend wie lange nicht.
Schon die zunächst von den 43 Länderjurys vergebenen Wertungen zeigten eine beachtliche Bandbreite, in der Favoritentabelle herrschte reichlich Bewegung. Und als dann die aufaddierten Zuschauerwertungen hinzukamen, folgten weitere Überraschungen: Der von den Jurys auf Platz 2 gewählte schwedische Funk-Song (Benjamin Ingrosso mit „Dance You Off“) wurde beim Publikum viertletzter und landete in der Gesamtwertung auf der Sieben. Und der nach dem Juryvotum überraschend führende Cesár Sampson, der für Österreich mit „Nobody but You“angetreten war, fiel zurück auf die Drei, mit gerade einmal zwei Punkten Führung vor Deutschland.
Doch mit dem knappen Abstand zur Top 3 haderte zu dem Zeitpunkt in Deutschland sicher niemand mehr, ließ sich zuvor doch eine schon länger nicht mehr erlebte ESC-Erfahrung machen: Von fast überall her purzelten Punkte Richtung Deutschland. Mehrfach gab es sogar die begehrte 12er-Höchstwertung: Aus Norwegen und der Schweiz kam diese von den Jurys, aus Dänemark und den Niederlanden von Jury und Zuschauern. Gerade bei den dänischen ESC-Fans hatte der aus Buxtehude stammende Schulte schon im Vorfeld punkten können und als Gast beim zweiten Halbfinale den 2000er Siegertitel der Olsen Brothers „Fly on The Wings of Love“samt Ukulele auf Dänisch intoniert. Während sein eigener Song im Vorfeld selbst in Deutschland außerhalb der ESC-Fangemeinde kaum wahrgenommen worden war, gelang es dem tiefenentspannten 28-Jährigen so in den letzten Tagen, konstant Sympathiepunkte anzuhäufen.
Dazu trug sicher bei, dass bei ihm Person, Song und Botschaft erkennbar stimmig zusammenpassten. Zwar weist die Klavierballade über den frühen Tod seines Vaters noch drei Mitkomponisten auf, auf der Bühne in Lissabon trug sie Schulte aber vor passend ausgewählten Bühnenprojektionen unbestreitbar authentisch vor. Auch, als er kurz vor dem Wettbewerb verkündete, demnächst selbst Vater zu werden, wirkte dies keineswegs kalkuliert, sondern verlieh seinem Beitrag eher zusätzliches Gewicht.
Es kommt auf den Titel an
Welche Konsequenzen kann Deutschland nun daraus ziehen? Sicher die, dass es in Ordnung ist, den Kandidaten professionelle Unterstützung zur Seite zu stellen, deren eigene Stimme dabei aber immer noch erkennbar bleiben sollte. Bei den durchaus talentierten Kandidatinnen der vergangenen Jahre sprang dieser Funke in den Finalsendungen erkennbar nicht über. Eine wünschenswerte weitere Konsequenz wäre es, das ewige deutsche Gejammer „Keiner mag uns“und „die Osteuropäer schieben sich ja eh die Punkte zu“endgültig einzumotten. Denn die einfache Gleichung lautet: Wenn man einen guten Song im Gepäck hat, der die Menschen länderübergreifend berühren kann, und diesen überzeugend darbietet, dann spielt die Herkunft des Interpreten nur eine untergeordnete Rolle.
Am Reißbrett lassen sich Erfolge aber auch weiterhin nicht planen, man muss zudem den Nerv der Zeit treffen – wie Netta in ihrem selbstbewusst an die derzeitige #MeToo-Debatte anknüpfenden Song. Die 25-jährige Israelin, die früher unter ihrem Gewicht litt, fühlt sich mittlerweile erkennbar wohl in ihrem Körper. Ihr Beitrag ist eine wilde Stilmixtur, mal gackert sie wie Lady Gaga in „Bad Romance“, mal lässt sie Elemente des ostasiatischen Pops einfließen. Das gilt auch für die Textreferenzen, die von „Wonder Woman“bis hin zum Pokemon Pikachu reichen, sowie die Inszenierung: Netta trug einen Kimono, im Hintergrund thronten zwei Schränke mit japanischen Winkekatzen, vom deutschen ESCKommentator Peter Urban kenntnisreich als „Bären“bezeichnet. Dass vor zwei Jahren eine gewisse JamieLee auf einen optisch ähnlichen Stil setzte und damit für Deutschland auf dem letzten Platz landete, zeigt, dass man den richtigen Zeitpunkt auch verpassen kann, wenn man zu früh kommt. Nun findet der ESC mit dem vierten Sieg des Landes kommendes Jahr in Israel statt – 20 Jahre nachdem die transsexuelle Dana International den Wettbewerb zuletzt in das Land geholt hatte.