Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ganz konkret nach Europa
Nach dem „surrealen“4:1 gegen den FC Bayern darf der VfB Stuttgart zweigleisig planen
MÜNCHEN - Normalerweise geht der Blick von Profisportlern immer sofort nach vorne. Analyse ist wichtig, klar. Doch die geschieht intern. Und ganz generell: Das nächste Spiel ist immer das wichtigste, und was vorbei ist, ist vorbei. Doch als Tayfun Korkut am Sonntag, am Tag nach dem nicht nur nach Ansicht von VfBManager Michael Reschke „surrealen“4:1 (2:1) des VfB Stuttgart beim FC Bayern München gebeten wurde, den Blick mal nach vorne zu richten, antwortete der Trainer: „Lasst uns doch erst mal über gestern reden.“
Über gestern, über Samstag, als der VfB sein viertes Bundesligaspiel hintereinander gewann. Über gestern, als die Stuttgarter die Bayern im 100. Südschlager erst überrannten, dann gegen die Wand spielten und den höchsten Sieg überhaupt einfuhren, den Münchnern gründlich die Meisterparty verdarben und BayernCoach Jupp Heynckes zudem nach 1038 Spielen als Spieler und Trainer mit einer Niederlage in den Bundesliga-Ruhestand schickten. Über gestern, als die Stuttgarter Spieler nach vollendetem Coup in der Gästekabine der Allianz Arena saßen und standen und tanzten und dabei lautstark „Euu-ro-pa-pokaaal“skandierten.
Der VfB Stuttgart hat die erste Saison nach dem Wiederaufstieg dank eines fulminanten Saisonfinals auf Platz sieben beendet. Gewinnen die Münchner am Samstag gegen Eintracht Frankfurt das DFB-Pokalfinale in Berlin, müssen die Stuttgarter ihren Urlaub verkürzen. Oder besser gesagt: dürfen. Denn dann würden sie bereits am 26. Juli in die neue Saison starten – da beginnt die zweite Qualifikationsrunde zur Europa League.
Um in der finanziell lukrativen Gruppenphase der Europa League anzutreten, müsste der VfB auch noch die dritte Qualirunde und außerdem die Play-offs überstehen. VfB-Präsident Wolfgang Dietrich freute sich vor allem über die TVGelder für das Erreichen von Platz sieben. Und doch müsse jetzt erst mal ein Plan her für die Europa League, sagte der Präsident. Für den Fall der Fälle.
Der VfB träumt nach dem 34. Spieltag noch von Europa – wer hätte das gedacht?
Wer hätte das vor allem gedacht, als die VfB-Bosse nach dem 20. Spieltag Aufstiegstrainer Hannes Wolf freistellten und Tage später Tayfun Korkut als Nachfolger holten. Schien die Entlassung des äußerst populären Wolfs noch eine übereilte Panikreaktion, wirkte die Verpflichtung des schwäbischen Türken Korkut geradezu irrwitzig; selten dürfte in der Bundesligageschichte ein neuer Trainer schon vor seinem ersten Arbeitstag öffentlich so in der Kritik gestanden sein wie Korkut, dessen Fußballsachverstand in der Branche zwar unbestritten, dessen Ergebnisse aber bis dahin immer eher bescheiden gewesen waren.
Beim VfB fruchteten aber die Maßnahmen, die sich Korkut überlegt hatte. Und das praktisch sofort. Korkut brachte der Mannschaft, die zwar 20 Punkte aus 20 Spielen geholt hatte, aber zunehmend verunsicherter und verkrampfter agierte, einen äußerst simplen Fußball bei: Hinten sicher stehen, im Spielaufbau vornehmend über die Flügel spielen oder, wenn die Gegner den Raum zustellen, den Ball im Zweifel sofort lang und weit nach vorne dreschen, wo der „Ochsensturm“bestehend aus Mario Gomez und Daniel Ginczek schon irgendwas draus machen würde. Das war nicht immer schön anzusehen, aber ungemein effektiv. Der VfB beendet die Rückrunde als Zweiter, noch nie hat ein Aufsteiger zudem weniger Gegentore kassiert (36).
Vaterfreuden bei Gomez
Am Samstag lieferten die Stuttgarter ihr Meisterstück ab: Als dem ohnehin wegen diverser Sperren und Verletzungen arg dezimierten Kader auch noch Mario Gomez abhanden kam – der Torjäger wurde am Freitag zum ersten Mal Vater – ließ Korkut seine Spieler einfach mal stürmen: Ginczek rückte auf die linke Außenbahn – und erzielte in neuer Rolle zwei Tore. Der erst im Winter gekommene Erik Thommy machte im Mittelfeld so viel Alarm, dass man sich nicht wundern würde, sollte Bundestrainer Joachim Löw den 23jährigen Ulmer noch als WM-Überraschung aus dem Hut zaubern. Und da waren noch Anastasios Donis, Vorbereiter zum 1:0 nach einem tollen Sololauf, Torschütze zum 2:1 nach einem tollen Sololauf, und Chadrac Akolo, Torschütze zum 3:1: Zwei Spieler, die beide als Lieblingsschüler von Hannes Wolf galten und nun auch bewiesen, dass sie durchaus auch Korkut-Spieler sein können.
„Wir hatten einen steinigen Weg, aber wir haben unser Ding gemacht“, sagte Verteidiger Holger Badstuber, der vor dem Spiel noch vom FC Bayern offiziell verabschiedet worden war – nach eineinhalb Jahren.
Über das alles konnte man am Sonntag noch sprechen. Aber was macht Tayfun Korkut jetzt kommenden Samstag? „Ich werde das Pokalfinale entspannt mit einem Glas Rotwein im Fernsehen anschauen“, sagte er. Und den Bayern die Daumen drücken. „Die Europa League nehmen wir natürlich mit, wenn es denn so weit kommt.“