Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Vom Rollstuhl in die Kletterwand
Ein amputiertes Bein, multiple Sklerose oder Spastiken sind für echte Kämpfer keine Hindernisse – Besuch bei einer Paraclimbinggruppe
KARLSRUHE (lsw) - Wenn Martin Seeger sich aus einigen Metern Höhe abseilt, landet er nicht auf seinen zwei Beinen. Am Fuß der Kletterwand steht ein Rollstuhl. Weil er bei seiner Geburt nicht ausreichend Sauerstoff bekam, lebt Seeger als sprachbehinderter Spastiker. Vom Klettern hält ihn das nicht ab.
Seeger ist ein Kämpfer. Seit fast 20 Jahren arbeitet der studierte Informatiker als Software-Entwickler bei einer Karlsruher Firma. Weil er nicht so deutlich sprechen kann wie andere, schreibt er seine Gedanken auf. Weil er im Alltag nicht laufen kann, erklimmt er in seiner Freizeit steile Wände. „Ich sehe das Klettern als super Training für die Erhaltung meiner Beweglichkeit. Und man lernt beeindruckende Menschen kennen.“
Viele davon sind Teil der sogenannten Paraclimbinggruppe des Karlsruher Alpenvereins. Rund 30 Erwachsene und 10 Jugendliche treffen sich jede Woche in der Kletterhalle. Einige stellen ihr metallenes Ersatzbein auf die Halterungen, andere ziehen ein Bein mit den Armen hinterher, wieder andere ertasten sich ihren Weg ohne Augenlicht.
„Manchmal ist es bei den unterschiedlichen Handicaps gar nicht so leicht umzuschalten“, sagt Uwe Benitz, der vor einigen Jahren eine Ausbildung zum Klettertrainer für Behinderte gemacht hat. Selbst in den Alpen ist die ungleiche Gruppe schon zusammen gekraxelt.
Der 9. Juni ist ein großer Tag für Martin Seeger und sein Team. Aus der ganzen Republik kommen dann knapp 70 Kletterer mit Behinderungen nach Karlsruhe – von 14 bis 72 Jahren ist jedes Alter dabei. Rollstuhlfahrer, Beinamputierte, Armamputierte und Sehbehinderte treten in getrennten Kategorien gegeneinander an. „Jeder Griff ein Punkt“lautet die wichtigste Regel. Je höher sie die Wand erklimmen, desto mehr Punkte sammeln sie.
„Das Miteinander, der Austausch, der Spaß stehen im Vordergrund“, sagt Initiator Armin Kuhn vom Alpenverein Karlsruhe. Seinen linken Unterschenkel hat Kuhn seit einem Kletterunfall nicht mehr, seine Energie hingegen schon. Eigentlich wollte der Beinamputierte nur eine Stadtmeisterschaft veranstalten. Durch viel Zuspruch, Kontakte und „mehrere 100 Arbeitsstunden“wurde die erste deutsche Meisterschaft im Paraclimbing daraus. Die Begeisterung im Verein geht weit über die Behinderten hinaus: Mehr als 60 Helfer packen mit an.
Träumen von den Paralympics
Irgendwann – so der Traum der Paraclimber – könnte ihr Sport paralympisch werden. „So ein nationaler Wettbewerb ist eine wichtige Stufe, weil er eine gewisse Professionalisierung zeigt“, sagt der stellvertretende Sportdirektor des Behindertenverbands, Marc Möllmann. „Der Klettersport ist in Deutschland gut verbreitet. Je mehr Teilnehmer sich finden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Weltverband mitzieht.“Bis zu einer Anerkennung könnten jedoch noch einige Jahre vergehen.
Das Problem bei der Anerkennung seien die vielen Wettkampfklassen durch verschiedenartige Behinderungen, erklärt Anine Hell, die beim Deutschen Alpenverein an einem Maßnahmenplan für das paralympische Klettern arbeitet. „Man kann nicht jedes Mal die Kletterroute umbauen.“
Bei der Sicherung per Seil bekommen viele Behinderte Hilfe von Kletterern ohne Handicap. „Dadurch nimmt man mehr, als man letztendlich geben kann“, meint Martin Seeger. „Das empfinde ich manchmal als Belastung – gerade in einer Gesellschaft, in der jeder bestrebt ist, so unabhängig wie möglich zu sein.“Einer oben, einer unten, so funktioniert der Klettersport. Und dazu gehören nun einmal zwei – mindestens.