Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Der Mythos klebt
Das Panini-Album wurde vor über 40 Jahren in Modena erfunden – Ein Besuch in der norditalienischen Stadt, wo die bunten Bildchen bis heute produziert werden
Holpriges Kopfsteinpflaster, ein schmachtendes ErosRamazotti-Double vor dem Uhrenturm, entspannte Zuhörer auf der Terrasse der Bar Concerto: Die Piazza Grande ist Modenas Wohnzimmer. Einheimische und Besucher flanieren über den Platz, am zu groß geratenen Dom, scheinbar lauernd beäugt von zwei wuchtigen Steinlöwen, die den Seiteneingang bewachen. Auf der Treppe, nicht so recht passend in dieses entspannte italienische Alltagsgemälde, kauern zwei Jungs. Lautstark wie heißblütige Skatspieler fuchteln sie mit aufgefächerten Kärtchen herum – nur Buben auf der Hand, aber kaum Trümpfe: „Nicht mal gegen Messi, Ronaldo und Özil zusammen tausche ich den“, wettert der kleinere, schwarz gelockte und rückt seinen besonders seltenen Kicker nicht raus. Bei der WM 2014 galt Julian Draxler als eines dieser meistgesuchten Sammelbildchen fürs Panini-WM-Album. Nun haben beide Jungs das aktuelle Heft für das Turnier in Russland auf den Knien, reißen voller Hoffnung weitere Tüten auf, eben erstanden für 90 Cent pro Stück im Kiosk um die Ecke, wo die Panini-Story einst begann.
Mama Olga Panini, Kriegswitwe mit acht Kindern, verkauft hier seit 1946 Zeitungen und Zeitschriften. Viele gab es damals nicht, und so reicht es bei den Paninis jahrelang kaum für eine warme Mahlzeit pro Tag. Sohn Guiseppe, der älteste, bei einem Krankenhausaufenthalt schon als talentierter Süßigkeiten-Verkäu- fer aufgefallen, hat mit seinen Brüdern Benito, Umberto und Franco eine clevere Altpapier-Geschäftsidee: Man nehme Zeitungen und Zeitschriften der Vorwochen, dazu einen Luftballon und „Figurine“-Sammelbilder, die damals üblicherweise in Zigarettenpackungen als Zugabe klemmen. Alles zusammen in einen Papierumschlag, zukleben und als „Wundertüte“anbieten. Die kommen gut an bei den Kiosk-Kunden, besonders die „Figurine“. Also setzen die Panini-Brüder auf reine Bildertüten mit Pflanzenmotiven drin. Ein Flop. Aber dann: Italienische Fußballer sind ab 1961 Paninis erster Sammelbild-Renner, beginnend mit Bruno Bolchi, dem Kapitän von Inter Mailand.
Er prangt heute, leicht vergilbt, in Modenas „Museo della Figurina“. Von den Panini-Brüdern gegründet und kostenlos zu besichtigen, zeigt es die Geschichte der Sammelbilder, beginnend um 1870 im Pariser Kaufhaus „Au Bon Marché“. Mit der vermutlich ersten Quengelware der Geschichte steigert es seinen Umsatz enorm: Kostenlose, bunte Kärtchen, beliebt vor allem bei Kindern, die ihre Mütter zu weiteren Einkaufsbesuchen drängen, um die Bildersammlung zu komplettieren. Paninis Erfolgsstory präsentiert das Museum erfreulich bescheiden. Von den etwa 600 Millionen Euro Jahresumsatz in 110 Ländern ist nirgendwo etwas zu lesen, zu sehen ist aber, womit sie erreicht werden: Nach Fußballern folgen Alben mit Flugzeugen und Raketen, Comic-Helden, und Pop-Ikonen, TVStars von Heidi bis Hannah Montana. Ein Hingucker auch die Weiterentwicklung der Bilder: zuerst noch schwarz-weiß und mit Fotoecken umständlich im Album zu arretieren, bald schon nachkolorierte Fotos, in den Siebzigern dann farbige, selbstklebende und heute schließlich Glitzersticker mit 3-D-Effekt.
Auch in Zeiten von Internet und Smartphone noch immer Stoff zur Befriedigung der „Haben-Wollen“Sucht von Milliarden Sammlern weltweit, jeder Dritte zwischen sechs und zehn Jahren alt, jeder vierte aber über 25 – wie zum Beispiel jener Minister in Nordrhein-Westfalen, der während einer Landtagsdebatte beim Einkleben seiner Bilder gefilmt wurde.
Panini – längst ein Gattungsbegriff wie Tesa oder Tempo, aber ohne jede Heldenhuldigung in Modena. Keine Panini-Straße, kein Platz, kein Denkmal. Nur ein Hinweis auf die nächsten Spiele der hiesigen Volleyballer – im Panini-Sportpalast, benannt zu Ehren von Giuseppe, begeisterter Volleyballer und langjähriger Sponsor des Erfolgsclubs. So steht’s auf einem Plakat an der Via Emilia. Ein Zufall? Genau hier kippte Umberto Panini mal ein dreirädriger Kleinlaster voller Panini-Bilder um, alle Tüten vom Winde verweht über die alte römische Handelsstraße, die sich schnurgerade durch Modenas Zentrum zieht. Schmalere Gassen gruppieren sich drumherum wie Schichten einer Zwiebel. Praktisch, weil man so beim Bummeln durch die vielen, oft unter Arkaden liegenden Geschäfte nie in den Stadtplan schauen muss. Egal, ob man sich im Feinschmecker-Imbiss „Giusti“mit Kolonialwarenladen-Theke und Sonnensitzplätzen stärkt, bei „Bloom“ein Eis nascht, in Suzanna Martinis Muranoglas-Schmuck-Boutique „La Gioja“stöbert oder bei „La Vacchetta Grassa“würzigen Lederduft inhaliert und den Handwerkern beim Nähen von Gürteln und Taschen zuschaut – früher oder später steht man auf einer „Ach-hier-sind-wir“-Kreuzung und weiß, wo man ist.
Fußballstars im Butterfass
Modenas Altstadtfassaden strahlen in vielen, leuchtenden Pastellvariationen, so als hätten die Maler einen XXL-Tuschkasten benutzt. Die schönsten Farbspiele bietet die Via Castel Maraldo, Paninis erster Firmensitz – in den frühen Sechzigern geprägt von purer Handarbeit. Im Keller werfen Giuseppe, Franco und Benito die Bilder mit Schaufeln durcheinander und mischen sie per Handkurbel in einem Butterfass solange, bis sicher scheint, dass keines doppelt in eine Tüte kommt. Auf Dauer zu mühselig, darum rufen sie Umberto, den für eine Ölfirma nach Venezuela ausgewanderten Bruder zurück. Der Tüftler soll eine Maschine erfinden, die die Bilder mischt, sortiert und eintütet. Seine „Fifimatic“ist bis heute in Betrieb, in der 1965 gebauten Panini-Fabrik außerhalb der Altstadt. Ein schmuckloses Gebäude, das auch einen größeren Klempnerbetrieb beherbergen könnte. Nichts deutet darauf hin, dass hier in WM-Jahren täglich mehr als 60 Millionen Sticker produziert und in die Welt hinaus geschickt werden.
Auf Panini-Tour in Modena
Reich geworden durch ihre Firma und deren Verkauf 1988 investieren die Panini-Brüder in andere Geschäftsfelder. Umberto kauft eine 300-Hektar-Farm mit 500 Kühen, startet seine Öko-ParmesankäseProduktion, seit Umbertos Tod geführt von Sohn Matteo. Ein Besuch dort – 15 Autominuten außerhalb Modenas – ist das Highlight der Panini-Tour, auch wegen der noch von Umberto aufgekauften MaseratiOldtimer-Sammlung, der größten Italiens. Matteo zeigt sie und die Käseherstellung gern, erzählt dabei über seine Zeit als Sohn im Sammelbilder-Imperium: „Viele wollten in den Siebzigern mein Freund sein, weil sie wussten, ich kann ihnen das Sticker-Album sofort voll machen.“
Apropos: Warum sind eigentlich bestimmte Kicker – so wie Draxler vor vier Jahren – so selten in der Tüte wie die blaue Mauritius im Briefmar- kenladen? „Zufall“, sagt Matteo Panini mit nicht ganz überzeugendem Mienenspiel, „wir haben wirklich nie Bilder zurückgehalten, damit die Leute mehr kaufen müssen, um das Album zu füllen.“Man könne ja die fehlenden einfach bei Panini bestellen. Im übrigen hätten manche Kicker viel größere Probleme als die Sammler, fügt er augenzwinkernd hinzu. Wer im Album ist, steigert Börsenwert und Selbstwertgefühl. Und wer nicht drin ist, beklagt sich schon mal bei Panini. Italiens Alessandro del Piero etwa, lange bevor er Deutschland 2006 aus dem Turnier schoss und wenige Tage später Weltmeister wurde.