Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Erst singt Robbie, dann siegt Russland

Iran-Expertin Natalie Amiri erklärt, was Tore des Nationalte­ams im Land ausrichten könnten

-

Glückliche Zuschauer im Luschniki-Stadion: Zunächst lieferte Popstar Robbie Williams – hier als Charmeur mit der britischen Opernsänge­rin Aida Garifullin­a (Foto: dpa), später als Provokateu­r mit gerecktem Mittelfing­er – eine große Show. Im Eröffnungs­spiel gewann Gastgeber Russland danach souverän mit 5:0 gegen Außenseite­r Saudi-Arabien. Das erste Topspiel steigt heute Abend, wenn Ex-Weltmeiste­r Spanien auf Europameis­ter

Portugal trifft.

Wenn die iranische Nationalma­nnschaft mit dem Spiel gegen Marokko am Freitag (17 Uhr/ZDF) in ihre fünfte WM einsteigt, schauen auch die Zensurmeis­ter zu Hause genau hin. Etwa, um Frauen auf den Tribünen heraus- und andere Bilder hineinzusc­hneiden. Sicher nicht der einzige Grund, wieso in Iran nur wenig WM-Euphorie herrscht. Patrick Strasser hat mit Natalie Amiri, Leiterin des ARD-Studios in Teheran, gesprochen.

Iran ist das einzige Teilnehmer­land dieser WM, in dem Frauen nicht ins Stadion dürfen. Im Zuge der Islamische­n Revolution von 1979 setzten die schiitisch­en Geistliche­n ein entspreche­ndes Gesetz in Kraft. Frauen werden systematis­ch unterdrück­t und benachteil­igt. Es herrscht Kopftuchzw­ang. Fünf Mädchen, die sich im April als Männer verkleidet ins Nationalst­adion von Teheran geschliche­n haben, wurden in den sozialen Netzwerken zu Heldinnen. Was ist den Mädchen mit den Perücken und angeklebte­n Bärten passiert, Frau Amiri?

Bisher noch nichts, sie sind noch nicht abgeholt worden. Seit Jahren versuchen iranische Frauen in die Stadien zu kommen. Es ist ein kleiner Aufstand, ihre eigene kleine Revolution gegen das Regime. Über die sozialen Medien lassen sie sich für ihren Coup feiern. Das wiederum ist dann ein Ansporn für andere Frauen, es ebenfalls zu versuchen. Von offizielle­r Seite wird das Thema totgeschwi­egen.

Zuvor hatten im März 35 Frauen versucht, ein Spiel im Teheraner Azadi-Stadion zu besuchen. Sie wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen. Azadi heißt auf Persisch „Freiheit“– ein scheinheil­iger Name. Angeblich sei die Atmosphäre auf den Tribünen zu maskulin, zu laut und zu vulgär, so die Begründung der Geistliche­n. Ja, mit der Begründung machen es sich die Offizielle­n einfach. Das iranische Futsal-Nationalte­am der Frauen ist vor Kurzem Asienmeist­er geworden. Und was überträgt das Staatsfern­sehen stattdesse­n? Die Eishockey-WM der Männer. Die FrauenNati­onalmannsc­haft des Iran wird überhaupt nicht unterstütz­t. Sie bekommen deshalb auch keine Sponsoren, weil das TV deren Spiele nicht zeigt.

Als im Mai das Bundesliga­spiel zwischen dem 1. FC Köln und dem FC Bayern live im TV übertragen wurde, zeigte das iranische Staatsfern­sehen Schiedsric­hterin Bibiana Steinhaus nur in der totalen Kameraeins­tellung, bei Nahaufnahm­en blendete man stattdesse­n Zuschauer ein.

Ein anstrengen­des Spiel für die Zenverfall surmeister in Iran. Generell wird jedes Spiel mit einer zehn- bis 15-sekündigen Verzögerun­g des Weltbildes übertragen. Auch bei einer WM. So können sie Frauen auf den Tribünen heraus- und andere Bilder reinschnei­den. Bei Steinhaus hat man auch versucht, die Realität herauszusc­hneiden – im 21. Jahrhunder­t. In Irans sozialen Netzwerken wird das mit enorm viel Ironie und Sarkasmus bestraft.

Werden die sozialen Medien nicht vom Staat zensiert?

Natürlich. Überall, wo es geht. Zuletzt wurde der Telegram Messenger gesperrt, den etwa 40 Millionen der 80 Millionen Iraner genutzt haben – eine riesige Einschränk­ung. Auch für uns Journalist­en. Denn über Staatsmedi­en bekommt man keine Informatio­nen, was etwa in den Provinzen des Landes passiert. Aber die Iraner sind spitzfindi­g und finden immer neue Möglichkei­ten, die Zensur zu umgehen.

Wie groß ist die Euphorie rund um das Männerteam mit Blick auf die WM?

Die aktuellen Unruhen im Land haben die Euphorie genommen, weil die Menschen in ihrem Alltag zu viele Probleme und Sorgen haben. Die hohe Arbeitslos­igkeit, der Währungs- von 34 Prozent, die Preissteig­erungen, ausbleiben­de Auszahlung der Gehälter, dadurch bedingte Hungersnöt­e – das alles hat Priorität. Es brodelt im Land immer mehr, tagtäglich gibt es Proteste. Von Bauern, Lehrern, Lkw-Fahrern. Aktuell entwickelt sich daraus aber keine Bewegung, weil es keinen Plan und keinen Anführer gibt. Nur die hartgesott­enen Fußballfan­s konnten sich wirklich auf das Turnier freuen. Aber die Euphorie könnte schnell entfacht werden.

Bei allen vier bisherigen WM-Teilnahmen schied Iran jeweils in der Gruppenpha­se aus.

Sollte Iran auch nur ein Tor schießen, dann strömen die Menschen auf die Straßen und feiern – und zwar alle. Sportlich haben sie eine harte Gruppe erwischt mit Spanien und Portugal plus Marokko. Man hofft, das Auftaktspi­el gegen Marokko irgendwie zu gewinnen, um dann wenigstens Dritter zu werden.

Wie verfolgen die Iraner eine WM? In Cafés und Restaurant­s? Gibt es gar Public Viewing?

Nein, Public Viewing kennt man dort nicht. Schon gar nicht in den Ausmaßen wie in Deutschlan­d mit Riesenlein­wänden in Biergärten und ein paar Tausend Zuschauern. Jede Ansammlung von Menschen, auch wenn es nur 20, 30 Leute sind, bedeutet in Iran eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Deswegen hatte man es sogar den Cafés verboten, Fußball zu zeigen. Dies wurde widerrufen. Die Cafés dürfen jetzt doch Leinwände aufstellen und bereiten sich auf die WM vor. Aber man sollte sich darauf nicht verlassen. In letzter Sekunde könnte der Geheimdien­st das Ganze verbieten. Sollte ein Tor fallen, kommen die Menschen auf die Straßen. Das ist ja die größte Angst des Geheimdien­stes und der Sicherheit­skräfte.

Dann könnte es gefährlich werden, falls resolut dazwischen­gegangen wird. Ja, denn wenn dann Hunderttau­sende respektive Millionen Menschen auf den Straßen sind, können die Sicherheit­skräfte nichts mehr machen. Bei der WM 1998 gewann Iran mit 2:1 gegen die USA, da waren die feiernden Massen nicht mehr zu halten. In solch einer euphorisch­en Stimmung wird kein Gesetz mehr beachtet. Bei lauter Musik wird auf den Autos getanzt, die Frauen ziehen sich die Kopftücher ab. Es ist auch schon vorgekomme­n, dass die Menschen die Sicherheit­skräfte zum Tanzen aufgeforde­rt haben. Für einen Moment sind dann alle Restriktio­nen und Mauern vergessen.

Könnten die Unruhen während der WM zu einem Aufstand führen?

Das Regime zittert massiv davor, dass die iranische Mannschaft in Russland Erfolg hat. Das Regime wünscht sich keinen Sieg, will lieber einen negativen Ausgang – unausgespr­ochen natürlich. Hassan Ruhani, der Staatsund Regierungs­chef, hat der Mannschaft bei einem Treffen vor allem gesagt, dass die Qualifikat­ion schon ein Erfolg sei.

Damit dürfte Iran das einzige Team der 32 Teilnehmer­länder sein, deren Regierung auf Distanz zur Landesausw­ahl geht.

Selbst Saudi-Arabien würde im Zuge der Öffnung des Landes ein Erfolg ihrer Nationalel­f in die aktuelle PRStrategi­e, ihr Land positiv zu verkaufen, ganz gut reinpassen.

 ??  ??
 ??  ??
 ?? FOTO: HO ?? Vor der Abreise nach Russland traf die iranische Nationalma­nnschaft Präsident Hassan Ruhani. Seine Glückwünsc­he waren eher vorsichtig.
FOTO: HO Vor der Abreise nach Russland traf die iranische Nationalma­nnschaft Präsident Hassan Ruhani. Seine Glückwünsc­he waren eher vorsichtig.
 ?? FOTO: AFP ?? Die Spieler der iranischen Nationalma­nnschaft während einer Trainingse­inheit in Russland.
FOTO: AFP Die Spieler der iranischen Nationalma­nnschaft während einer Trainingse­inheit in Russland.
 ?? FOTO: AFP ?? Iranische Fans fordern, Frauen in die Stadien zu lassen.
FOTO: AFP Iranische Fans fordern, Frauen in die Stadien zu lassen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany