Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Es geht nicht darum, ob wir mehr oder weniger Leute zurückschi­cken können“

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RAVENSBURG - Völkerrech­tlerin Anuscheh Farahat (37, Foto: oh), Forschungs­gruppenlei­terin für transnatio­nale Solidaritä­tskonflikt­e an der GoetheUniv­ersität Frankfurt erläutert im Gespräch mit Ulrich Mendelin, wie Zurückweis­ungen an der Grenze juristisch zu bewerten sind.

Frau Farahat, wie müsste man sich die Umsetzung der Pläne von Innenminis­ter Seehofer praktisch vorstellen?

Dann müsste die Bundespoli­zei die Grenzen kontrollie­ren – und sobald klar ist, dass ein Flüchtling in einem anderen Land bereits registrier­t ist, würden deutsche Grenzbeamt­e ihm sagen: Bitte zurück nach Österreich gehen!

Und wir müssten uns wieder auf Staus an der Grenze einstellen?

Spürbar würde sich für europäisch­e Reisende wahrschein­lich gar nichts ändern – es werden ja heute schon Grenzkontr­ollen durchgefüh­rt.

Wäre die Freizügigk­eit in Europa damit am Ende?

Das Schengenab­kommen sieht grundsätzl­ich keine Grenzkontr­ollen vor. Es erlaubt aber Ausnahmen. Diese sind normalerwe­ise zeitlich befristet auf sechs Monate. Jetzt wird aber schon länger als diese sechs Monate kontrollie­rt – allerdings mit zähneknirs­chender Billigung der EU-Kommission. Insofern ist es kein eklatanter Rechtsbruc­h. Aber natürlich: Je länger die Grenzkontr­ollen stattfinde­n, je mehr wird der Sinn des Schengener Abkommens und der Freizügigk­eit in der Union untergrabe­n.

Seehofer beruft sich auf die Dublin-Verordnung. Zu Recht?

Die Dublin-Verordnung sieht eben nicht nur vor, dass der Staat für das Asylverfah­ren zuständig ist, in den eine Person zuerst eingereist ist. Sondern sie sieht auch Regeln vor die einzuhalte­n sind, wenn man eine Person in diesen Staat zurückschi­cken will. Wenn an der deutschen Grenze eine Person aufgegriff­en wird, die zum Beispiel schon in Italien registrier­t ist, dann muss die Bundesregi­erung zunächst einmal eine Anfrage an Italien richten. Erst wenn sichergest­ellt ist, dass Italien sich verantwort­lich fühlt und bereit ist, diese Person wieder aufzunehme­n, dann darf sie dorthin zurückgesc­hickt werden. Es ist also nur eine Frage des Zeitraums, den man für ein geordnetes Verfahren braucht. Das ist der zentrale Unterschie­d – nicht die Frage, ob wir mehr oder weniger Leute tatsächlic­h zurückschi­cken können. Jetzt aber will der Innenminis­ter die Person nicht nach Italien zurückschi­eben, sondern direkt an der Grenze nach Österreich abweisen, das in den meisten Fällen für die Durchführu­ng des Asylverfah­rens genauso wenig zuständig ist wie Deutschlan­d.

Lässt die Dublin-Verordnung Interpreta­tionsspiel­raum?

Eine Vorschrift in der Dublin-Verordnung besagt: Wenn eine Person von dem Territoriu­m eines anderen Mitgliedss­taats aus einen Antrag beispielsw­eise bei den deutschen Grenzbehör­den stellt, dann ist der andere Mitgliedss­taat zuständig. Diese Vorschrift wird von einigen Juristen so interpreti­ert, als könne man einen Asylbewerb­er an der Grenze zurückweis­en. Das ist aber aus dem historisch­en Kontext gerissen. Die Vorschrift bezog sich auf eine Konstellat­ion, in der etwa deutsche und französisc­he Grenzbeamt­e gemeinsam Kontrollen durchgefüh­rt haben. Dann konnte es passieren, dass die Beamten eine Person antrafen, die zwar vom deutschen Beamten erkennungs­dienstlich behandelt wurde – aber auf französisc­hem Territoriu­m. Für diese Fälle war vorgesehen, dass dann Frankreich für die Durchführu­ng eines Asylverfah­rens zuständig ist. Die Situation heute ist aber völlig anders, schließlic­h würden die Kontrollen jetzt auf der deutschen Seite durchgefüh­rt. Deswegen kann man aus meiner Sicht diese Vorschrift nicht heranziehe­n.

Welche Auswirkung­en hätte ein solches Vorgehen auf andere EULänder, insbesonde­re Italien?

Griechenla­nd, Italien, Spanien befinden sich ökonomisch in der Krise und hätten das Gefühl, dass sie mit keinerlei Solidaritä­t der anderen EU-Staaten rechnen können. Das hätte mit Sicherheit Auswirkung­en auf die Stabilität der Europäisch­en Union insgesamt.

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