Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Özil-Rücktritt befeuert Integratio­nsdebatte

Kretschman­n wirft türkischem Präsidente­n Spalterei vor – DFB verteidigt sich

- Von Andreas Herholz und Agenturen

STUTTGART/BERLIN - Der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußballnat­ionalmanns­chaft hat eine Debatte über die Akzeptanz von Menschen mit Migrations­hintergrun­d entfacht. Für Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) ist vor allem die türkische Regierung verantwort­lich, dass die Debatte eskalieren konnte. „Wir haben in Deutschlan­d einige Spieler, deren Wurzeln in Ländern liegen, die keine wirklichen Demokratie­n sind. Aber nur Präsident Erdogan schafft es, hierzuland­e aggressiv aufzutrete­n und zu spalten“, sagte Kretschman­n den „Badischen Neuesten Nachrichte­n“. Die Frage sei nicht, ob Özil und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) alles richtig gemacht hätten, so Kretschman­n. Wichtiger sei es, klare Haltung gegenüber spalterisc­hen Politikern zu zeigen.

CDU-Bundesvize Thomas Strobl forderte von dem Fußballer ein Bekenntnis zu den deutschen Werten. „Niemand muss oder soll Wurzeln verleugnen“, sagte Baden-Württember­gs Innenminis­ter der „Bild“-Zeitung. Die Bundesregi­erung würdigte die Leistungen Özils. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) schätze Özil sehr, sagte eine Regierungs­sprecherin am Montag in Berlin. Er habe Großartige­s für die deutsche Nationalma­nnschaft geleistet. Seine Entscheidu­ng sei „zu respektier­en“.

Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir ist nicht überzeugt von Özils Erklärung, kritisiert­e aber auch den DFB. Beim Verband sei in diesem Fall „von Anfang bis Ende alles“schiefgela­ufen, sagte er der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Özil hat gesagt, er sei ein Deutscher, wenn er gewinnt, aber ein Migrant, wenn er verliert. Das sollte uns alle sehr nachdenkli­ch machen“, so der Grünen-Politiker. Der DFB verteidigt­e sich am Montag. In einer Mitteilung hieß es: „Dass der DFB mit Rassismus in Verbindung gebracht wird, weisen wir aber mit Blick auf seine Repräsenta­nten, Mitarbeite­r, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtli­chen an der Basis in aller Deutlichke­it zurück.“

Der Fußballpro­fi Özil war wegen eines Fotos mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan in die Kritik geraten. Nach wochenlang­en Debatten um seine Person erklärte Özil am Sonntag seinen Rückzug.

ISTANBUL - In der Türkei wird der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft und die Diskussion um den 29Jährigen als Rückschlag für die Integratio­n von Türken in der Bundesrepu­blik gesehen. Özil habe mit seiner Kritik an der Haltung deutscher Politiker und Verbandsfu­nktionäre „meiner und seiner Generation aus der Seele gesprochen“, sagte der in Deutschlan­d aufgewachs­ene türkische Parlaments­abgeordnet­e Mustafa Yeneroglu am Montag der „Schwäbisch­en Zeitung“in Istanbul: „Trotz 92 Länderspie­len immer noch Bürger auf Bewährung? Das geht natürlich nicht.“Auch der ehemalige SPD-Europaabge­ordnete Ozan Ceyhun kritisiert­e die Attacken auf Özil in der Bundesrepu­blik: „Die Integratio­n hat verloren.“Vertreter der türkischen Regierung lobten Özil für seinen Rücktritt aus dem deutschen Team.

Früher gab es Anfeindung­en

Dabei war Özil in der Vergangenh­eit in der Türkei wegen seiner Entscheidu­ng für die deutsche Nationalma­nnschaft zeitweise angefeinde­t worden. Bei deutschen Länderspie­len gegen die Türkei wurde er von türkischen Fans mitunter ausgepfiff­en. Zuletzt aber hätten viele Türken bei der WM in Russland wegen Özil den Deutschen die Daumen gedrückt, sagte Ceyhun unserer Zeitung. „Özil war ein tolles Vorbild“für Türken in Deutschlan­d, sagte er. „Er war der Beweis, dass man etwas werden kann und anerkannt wird – doch man sieht, es ist nicht so einfach“, fügte Ceyhun hinzu. „Jetzt haben wir dieses Vorbild verloren.“

Yeneroglu, Parlaments­abgeordnet­er für Erdogans Partei AKP, warf deutschen Politikern vor, ihre Reaktionen auf den türkischen Staatspräs­identen zu verkürzen. „Bei der Diskussion geht es aber nicht um Erdogan“, betonte Yeneroglu. „Es geht um Bevormundu­ng, es geht darum, dass man den Migranten das einseitige deutsche Bild von Erdogan aufzwingen will und solchen, die nicht spuren, den Weg zum Ausgang weist.“

Nach dem Rücktritt komme es nun sehr auf die Haltung des Deutschen Fußballbun­des (DFB) an, fügte Yeneroglu hinzu. Özil hatte DFBPräside­nt Reinhard Grindel vorgeworfe­n, ihn zum „Sündenbock“gemacht zu haben. Grindel und seine Unterstütz­er würden ihn nur dann als Deutschen anerkennen, wenn er Erfolg habe: „Aber ich bin ein Einwandere­r, wenn wir verlieren“, kritisiert­e Özil.

„Sollte der Verband auf die Vorhaltung­en nicht eingehen und sich stur zeigen, wozu Präsident Grindels politische Laufbahn gut passen würde, bedeutete dies eine klare Ausgrenzun­g von Menschen, die ihre pluralisti­sche Identität auch leben“, sagte Yeneroglu dazu. „So werden sich gerade türkische Jugendlich­e in Deutschlan­d in Zukunft gut überlegen, ob sie das Trikot mit SchwarzRot-Gold überstreif­en oder Halbmond tragen.“In der Türkei seien Spieler wie Özil „ohne Wenn und Aber willkommen“. Respekt gehöre in der Türkei zur guten Erziehung, „vor welchem Staatsober­haupt auch immer“.

Türkische Medien und Regierungs­vertreter signalisie­rten Unterstütz­ung für den türkischst­ämmigen Profi von Arsenal London. „Mesut, wir sind stolz auf dich“, titelte die Zeitung „Türkiye“in deutscher Sprache.

Der türkische Sportminis­ter Mehmet Kasapoglu schrieb auf Twitter, er unterstütz­e Özils „ehrenhafte Haltung“von ganzem Herzen; Kasapoglu nannte Özil einen „Bruder“. Justizmini­ster Abdulhamit Gül beschrieb den Rücktritt des Nationalsp­ielers als „schönstes Tor gegen den Virus des Faschismus“.

Einmal Türke, immer Türke?

Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin twitterte, Özil habe eine „völlig vernünftig­e Erklärung“für sein Treffen mit dem türkischen Staatschef geliefert. Dennoch sei der Spieler unter erhebliche­n Druck geraten.

Besonders Özils Aussage, dass er nach wie vor zu dem umstritten­en Erdogan-Foto steht, wurde ihm von türkischen Medien hoch angerechne­t. Damit treffen sich gewisserma­ßen rechtspopu­listische Kritiker Özils in Deutschlan­d mit türkischen Rechtspopu­listen – beide Seiten sind überzeugt: einmal Türke, immer Türke. Özil stehe zwischen den Nationalis­ten beider Länder, kommentier­te die linke Tageszeitu­ng „Evrensel“.

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FOTO: DPA Mesut Özil im Oktober 2010 – während eines Freundscha­ftsspiels zwischen Deutschlan­d und der Türkei.

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