Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
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Für viele ist die Obdachlosenzeitschrift „Trott-War“nur Papier – Für Inge und Thomas war sie die Rettung
STUTTGART - Drei Jahre lang hat Inge Klose auf der Straße gelebt. Als wären die Weichen für ihr Schicksal bereits damit gestellt worden, beginnt sie ihre Geschichte mit dem Satz: „Also, ich hatte eine Totgeburt.“Damals ist die Frau, die am liebsten nur Inge genannt werden möchte, 21 Jahre alt. Der Verkauf der Stuttgarter Straßenzeitung half der heute 68-Jährigen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Zwei Jahre ist die gebürtige Karlsruherin verheiratet, als sie ihr Kind verliert. Nach dem Unglück entfernen sich die Eheleute immer mehr voneinander. Im Gegensatz zu ihrem Mann möchte Inge keine Kinder mehr – daran zerbricht schließlich die Ehe. Die damals Anfang 30-Jährige zieht zu einer Freundin nach Salem und verliebt sich dort erneut. Mit einem Mann aus Stuttgart, der häufig auf Montage fährt, ist sie drei Jahre zusammen. Dann entschließt sie sich, zu ihm in die Stadt zu ziehen. „Ich habe immer gesagt, du kannst alles machen, nur ehrlich musst du zu mir sein“, erinnert sie sich.
Kurz nachdem sie in Stuttgart ankommt, erfährt sie, dass ihr Freund verheiratet ist und zwei Kinder hat. Inge ist fassungslos. Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen ihr und ihrem Freund. Noch am selben Tag wirft er sie raus. Aus Scham möchte sie nicht zurück zu ihrer Freundin nach Salem ziehen, die von Anfang nicht viel von dem Monteur hielt. Mit 25000 Euro Schulden, die die gelernte Gastronomiefachkraft nach ihrer Ehe angehäuft hat, sitzt sie nun auf der Straße. Damit begann ihre Obdachlosigkeit.
„Ich hab das immer so gemacht, nachts habe ich in einer Bar gekellnert, tagsüber im Schwimmbad geschlafen“, erzählt sie. Eine Anstellung ohne Papiere habe sie häufig gefunden. Sobald ihre Chefs sie nach einer Meldebescheinigung fragten, wechselte sie in eine andere Bar. Ihre Kleidung schloss sie in ein Schließfach am Bahnhof ein. „Nach drei Jahren auf der Straße konnte ich dann einfach nicht mehr“, erinnert sie sich. Von anderen Straßenverkäufern erfährt Inge von „Trott-War“und entschließt sich, es mit dem Zeitungsverkauf zu versuchen.
Ebenso unverhohlen, wie Inge aus ihrer Vergangenheit erzählt, spricht sie die Passanten auf der Straße an. Seit über 20 Jahren ist sie nun schon bei dem Verein. Ihr Stammplatz: Die Schulstraße in der Stuttgarter Innenstadt. Dort sitzt sie beinahe jeden Tag auf einem kleinen Hocker. Neben ihr öffnet sich der Marktplatz mit seinem Flickenteppich aus den bunt gestreiften Schirmen der Verkaufsstände. Über ihrer geblümten Bluse trägt Inge eine knallrote Weste mit der weißen Aufschrift „Trott-War“auf dem Rücken. Hin und wieder steht sie auf und geht auf Passanten zu: „Hallo der Herr, haben sie schon mal „TrottWar“gelesen?“. Mehrere Zeitungen stecken gut präsentiert im Bund ihrer schwarzen Bauchtasche.
Es habe sie eine Weile gekostet, sich nicht mehr dafür zu schämen aber auch das habe sie in vielen Gesprächen bei dem Verein „TrottWar“gelernt. „Ich sage immer alles, was ich denke ganz direkt. So bin ich eben", sagt Inge mit lauter Stimme. Eine Frau in einem schwarzen Wollkleid passiert sie: „He Schatzi, schnell zurück ins Geschäft, da warten schon Kunden“, ruft sie der Angestellten zu, die in einem Schuhladen um die Ecke arbeitet. Beide lachen. Die Frauen kennen sich.
„Bei uns arbeiten Menschen, die keinen Job mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen“, erklärt „Trott-War“Geschäftsführer Helmut Schmid. Erster Arbeitsmarkt? Damit sind reguläre Stellenverhältnisse in der freien Wirtschaft gemeint. Durch den Zeitungsverkauf schafft der Verein ein niederschwelliges Angebot für sozial schwache Menschen, um ihnen einen Wiedereinstieg in ein Arbeitsverhältnis zu ermöglichen. Neben Stuttgart gibt es Zeitungsverkäufer in über 20 weiteren Städten in Baden-Württemberg. Unter ihnen Ulm, Aalen, Göppingen oder Schwäbisch Gmünd. Mittlerweile beschäftigt „Trott-War“zwölf festangestellte und etwa 150 freie Verkäufer. Während die festangestellten Verkäufer ihre Zeitungen meist zugeschickt bekommen, können die freien Verkäufer ihre Zeitungen beim Verein kaufen.
Viele der freien Verkäufer kommen schon früh zu dem Bürogebäude in Stuttgart Mitte, das jeden Tag um 7 Uhr öffnet. „Diejenigen, die die Nacht auf der Straße verbringen müssen, warten meist schon um 6.30 Uhr darauf, dass das Tor bei uns aufgeht“, sagt Geschäftsführer Schmid. Im großen Kellerbereich des Gebäudes riecht es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und Zigarettenrauch, der von den Wartenden nach drinnen getragen wird. Neben dem großen Aufenthaltsraum, in dem die Verkäufer an einem großen Tisch Frühstück bekommen, gibt es eine Dusche und eine Kleiderkammer, wo sie frische Kleidung holen können. 1,10 Euro bezahlen die Verkäufer für eine Zeitung. Für 2,20 Euro verkaufen sie das Blatt auf der Straße. 50 Prozent für den Verein, 50 für die Verkäufer. Das Prinzip des Vereins: Beteiligen statt nur versorgen. Zwei festangestellte Redakteure machen gemeinsam mit Geschäftsführer Helmut Schmid die monatlich erscheinende Ausgabe. Sie sitzen einen Stock höher. An den Wänden der Gänge zwischen den einzelnen Büros hängen große Schwarzweißfotografien. Sie zeigen die furchigen und vom Leben gezeichneten Gesichter der Verkäufer. Einziger Farbtupfer in den Bildern ist die rote Weste, die die „Trott-War“-Verkäufer tragen müssen. Der Name des 1994 gegründeten Vereins ist an das französische Fremdwort Trottoir, also Gehweg, angelehnt. "Trott-War" soll heißen: „Der Trott war einmal, raus aus dem Trott des Straßenlebens“, sagt Schmid. Junge Verkäufer würden das „war“aber oft wie das englische Wort für Krieg aussprechen. Damit bezeichnen sie den täglichen Kampf auf der Straße zu überleben.
Gewalt anzuwenden oder auch nur anzudrohen, ist den Verkäufern aber streng untersagt. Denn um die besten Verkaufsplätze gibt es schon mal Streit. Dieser wird seit einigen Jahren vor allem auch dadurch angefacht, dass seit der EU-Erweiterung 2004 und 2007 immer mehr Verkäufer aus Ungarn, Bulgarien oder Rumänien kommen. Bei vielen deutschen Verkäufern sorgt das für Unmut. „Es ist nichts Neues, dass man sich um Verkaufsplätze streitet. Das gibt es weltweit bei jeder Straßenzeitung“, sagt Schmid. Mit gemeinsamen Aktionen wie das Aufführen von Konzerten oder Theaterstücken, versuche der Verein die Leute einander näher zu bringen. Wer aber zuschlägt oder auch nur droht, muss die Zeitung verlassen.
Die zweite Regel für den Verkauf: Wer die Blätter anbietet, darf weder betrunken oder von anderen Mitteln berauscht sein. Denn viele von ihnen kämpfen mit Suchtproblemen, vor allem Alkoholismus. So auch Thomas Schuler. An einem schwülen Nachmittag im Juli steht er vor einer Gruppe von Achtklässlern eines Stuttgarter Gymnasiums. „Am Ende habe ich zwischen zwei und drei Flaschen Wodka am Tag getrunken. Aber nicht die kleinen, sondern die mit 0,75 Litern“, ruft er ihnen entgegen. Viele von ihnen tauschen untereinander Blicke mit großen Augen aus.
Fünf Jahre hat Schuler in Stuttgart auf der Straße gelebt und war stark alkoholabhängig. Als seine Ärztin ihm sagte, er werde das keine 12 Monate mehr überleben, habe es in seinem Kopf einen Schalter umgelegt. Er macht eine Entziehungskur, fängt mit kleinen Tagesjobs an.
Von der Straße schaffte er es durch ein Wohnheim für obdachlose Männer. Danach zog er ins betreute Wohnen nach Bad Canstatt, wo er seine Frau Iris kennenlernte. Heute leben die beiden gemeinsam in einer Mietwohnung. Durch Iris kam Thomas Schuler zu „Trott-War“. Mittlerweile leitet er monatlich meist mehr als 25 alternative Stadtführungen und ist seit 16 Jahren trocken. Seit drei Jahren empfängt er kein Hartz IV mehr und ist völlig unabhängig vom Staat. „Der Himmel ist gar nicht hoch genug, so stolz bin ich darauf“, sagt Schuler. Er möchte nie wieder vom Staat abhängig sein.
Auch Inge hat heute eine eigene Wohnung und ist im Ruhestand. Für Miete und Essen reiche ihre Rente knapp, für alles darüber hinaus aber nicht. Besonders ans Herz gewachsen ist ihr der dreijährige Nachbarsjunge. „Ich habe mein eigenes Kind ja verloren, aber ihn habe ich von ganz klein auf mit großgezogen und jetzt ist er mein Ein und Alles.“
„Am Ende habe ich zwischen zwei und drei Flaschen Wodka am Tag getrunken.“Thomas Schuler, Verkäufer bei „Trott-War“