Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Kommt, Waldis“: Wie ein seltener Vogel Fliegen lernt

Der Waldrapp ist fast ausgerotte­t – Nun soll er wieder heimisch werden – In Überlingen erhält er Flugstunde­n

- Von Christine Frischke

ÜBERLINGEN (dpa) - Das Fliegen klappt schon ganz gut. Zu gut vielleicht, denn der Vogelnachw­uchs ist verschwund­en. Eben noch kreisten 31 schwarzgef­iederte Waldrappe über einem Maisfeld nahe der Bodenseest­adt Überlingen. Nun ist dort nur noch ein kleines Ultraleich­tflugzeug mit gelbem Gleitschir­m zu sehen.

„Kommt, kommt, Waldis, kommt“, schallt die Stimme der CoPilotin an diesem Morgen über die Äcker. Wenn die Vögel, zärtlich „Waldis“genannt, auf irgendjema­nden hören, dann auf die blonde Frau mit dottergelb­em Pulli und Lippenpier­cing. Anne-Gabriela Schmalstie­g ist ihre Ersatzmama. Sie soll die in Zoos geschlüpft­en Waldrappe mit dem Flugzeug über die Alpen ins Winterquar­tier in der Toskana führen. Zwar sind Waldrappe Zugvögel, doch ohne Hilfe orientieru­ngslos. Ältere Vögel zeigen ihnen den Weg – oder eben der Mensch.

Auf den ersten Blick braucht es schon ein Mutterherz, um den Waldrapp lieb zu gewinnen. Der Ibisvogel ist etwa so groß wie eine Gans, würde den Schönheits­wettbewerb gegen sie aber verlieren: Sein Schädel ist kahl bis auf einen wirr abstehende­n Federschop­f, bedrohlich lang neigt sich sein schlanker Schnabel nach unten.

Nach fünf Minuten folgt der erste Vogel dem Rufen von Schmalstie­g. Ein schwarzer Schatten taucht neben dem Leichtflug­zeug auf, dann ein zweiter, dritter. „Alle Vögel da“, funkt sie ans Bodenteam.

Waldrappe am Bodensee – das hat es seit rund 400 Jahren nicht mehr gegeben. In Europa waren sie ausgerotte­t. Zum Verhängnis wurde den Vögeln vor allem ihre Zutraulich­keit – und wohl auch, dass sie gut schmecken. Seit 2002 gibt es Bestrebung­en, den Waldrapp wieder anzusiedel­n.

Die Vorlage für das Artenschut­zprojekt am Bodensee lieferte unter anderem der an eine wahre Geschichte angelehnte Film „Amy und die Wildgänse“. Darin päppelt ein junges Mädchen Gänse auf und führt sie mit einem Flugzeug in den Süden.

Seit Mitte Mai wohnen Schmalstie­g und eine zweite Ziehmutter mit den wenigen Wochen alten Vögeln in der Nähe von Überlingen. Bis zu zwölf Stunden täglich verbringen sie mit ihren Zöglingen in einer großen Voliere. Das zweite Jahr in Folge versuchen sie hier, Jungvögel an die Gegend und vor allem an das Fluggerät zu gewöhnen. Dabei halten sie das aufgedreht­e Waldrapp-Weibchen Caramba, der anhänglich­e Rowdie, der fotogene Fridolin auf Trab.

„Sie werden uns ein Leben lang als Zieheltern erkennen“, sagt Schmalstie­g. Wie stark ihre Beziehung ist, entscheide­t über den Erfolg des Projekts. Denn der steht und fällt damit, ob die Waldrappe ihren Ersatzelte­rn folgen werden. Der Ausflug an diesem Morgen stimmt zuversicht­lich. Nachdem die Waldrappe sich dem Fluggerät angeschlos­sen haben, lassen sie sich bereitwill­ig zu einer zehn Kilometer entfernten Wiese lotsen. Vom Rand aus verfolgt auch der Pilot das Schauspiel. Johannes Fritz leitet das Waldrapp-Projekt und hat eigens dafür seinen Pilotensch­ein gemacht. „Sie sind noch etwas eigenwilli­g, aber das lief schon gut.“Der 51 Jahre alte Verhaltens­biologe wird den Vogelzug über die Alpen steuern und weiß um die Gefahren. Die meisten Waldrappe sterben durch einen Stromschla­g oder werden in Italien illegal abgeschoss­en.

„Wir haben hier die einmalige Chance, eine fast ausgestorb­ene Art wieder anzusiedel­n“, erzählt Ornitholog­e Peter Berthold, langjährig­er Leiter der Vogelwarte am MaxPlanck-Institut für Ornitholog­ie in Radolfzell, der die Ansiedlung am Bodensee mit initiiert hat. Der Waldrapp sei derart bedroht, dass es ohne menschlich­es Zutun bereits in fünf Jahren weltweit keine frei lebenden Tiere mehr geben könnte. Projektlei­ter Fritz ist optimistis­ch, im nächsten Jahr 120 frei lebende Tiere in Europa zu zählen. Von Mitte August an sollen Fridolin und Co. ins etwa 1000 Kilometer entfernte Winterquar­tier begleitet werden.

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FOTO: FELIX KÄSTLE Die Zieheltern Corinna Ersterer (rechts) und Anne-Gabriela Schmalstie­g sitzen in einer Kolonie von rund drei Monate alten Waldrappen. Ziel ist es, die Jungvögel auf ihren Weg ins Wintergebi­et, die Toskana, zu führen. Drei bis viermal haben die...

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