Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Worte wie Waffen
Seit Wochen schreiben Menschen unter #MeTwo über alltäglichen Rassismus – Was sagt das über Deutschland aus? Eine Spurensuche
RAVENSBURG - Ein paar Wörter reichen, um ein Kinderherz zu zertrümmern. Malcolm Ohanwe hat sich den Tag herbeigeträumt, seit Monaten. Ab heute ist er weg von der Grundschule, von den Kindern, die ihn, den Klassenbesten, „Milky Way“gerufen haben, „weil du wie Schokolade aussiehst, haha“. Oder „Iiiih“, so haben ihn andere genannt, wegen der Dreadlocks auf seinem Kopf. Nie mehr nach Hause kommen und die Schultasche in die Ecke pfeffern vor Wut. Endlich Gymnasium.
Da sind die klugen, die coolen, die reiferen Kinder, hat ihm seine Mama versprochen. Dann ist große Pause, an diesem Morgen im September 2003. Malcolm Ohanwe, zehn Jahre alt und Freude im Herzen, steht zum ersten Mal auf dem Schulhof im Münchner Nordosten. Dann hört er es. „Hey, Du Affe! Das ist nicht die Baumschule! Das ist das Gymnasium! Was hast du hier zu suchen mit deinem Palmenkopf?“Es sind ältere Kinder, Teenager, so viel weiß Malcolm Ohanwe noch. Ob er etwas geantwortet hat? Wahrscheinlich. Aber er hat es verdrängt, sagt er. Er habe vieles verdrängt. Er sagt: „Das sind so Mechanismen, um zu überleben.“
Ohanwe ist heute Musikjournalist. Er hat die Geschichte von diesem Tag erzählt, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Er hat seinen Tweet markiert mit #MeTwo, so wie Tausende Menschen in den vergangenen Wochen. #MeTwo, das ist ein digitales Etikett geworden für Geschichten von alltäglichem Rassismus in Deutschland.
Der Fall Özil gab den Anstoß
Erfunden hat es Ali Can. Am 24. Juli ist ein Video des 25-jährigen Aktivisten online gegangen, auf den Kanälen des Digitalmagazins Perspective Daily. Das erste Wort, das Can darin sagt: „Özil“. Der Rücktritt des Nationalspielers ist der Anlass, Mesut Özils Rassismusvorwürfe gegen die Spitze des Deutschen Fußballbunds. Dann spricht Can, Sohn türkischkurdischer Einwanderer, davon, dass Deutschland eine Debatte über Alltagsrassismus braucht. Schließlich ruft er diese Debatte ins Leben. Er tauft sie #Me-Two – aus den englischen Wörten für „ich“und „zwei“. Vorbild ist die #MeToo-Kampagne, bei der Frauen Erfahrungen mit Sexismus geteilt haben. „Ich“und „zwei“, weil Can sich an Menschen wendet, die nicht nur deutsch sind. Bei denen „die zwei Seiten verschmelzen“, wie er sagt: die deutsche Identität und die türkische, der Geburtsort in Bayern oder Baden-Württemberg und die Wurzeln der Vorfahren in Nigeria oder Iran.
Was hat sein Appell bewirkt? Ein guter Monat ist seither vergangen. Tausende haben #MeTwo-Tweets in ihre Smartphones und Computertastaturen getippt. 280-Zeichen-Botschaften über Lehrer, die Schülern trotz ausgezeichneter Noten vom Gymnasium abgeraten haben. Über Paare auf Wohnungssuche, bei der der Partner mit nicht deutsch klingendem Namen nicht einmal zur Besichtigung eingeladen wird, der mit deutsch klingendem Namen aber gleich eine Zusage bekommt. Tweets über üble rassistische Beleidigungen – wie der von Malcolm Ohanwe. 97 andere Twitternutzer haben seine Pausenhoferinnerung per Retweet geteilt, 823 haben sie mit einem „Gefällt mir“-Herz markiert. Das ist für einen Tweet vergleichsweise viel. Aber Twitter zählt in Deutschland vergleichweise wenig. Laut Onlinestudie von ARD und ZDF nutzen vier Prozent der Menschen in Deutschland Twitter mindestens einmal wöchentlich. Der Mediennutzungsforscher Sascha Hölig hat festgestellt, dass Twitterdebatten nicht abbilden, was die meisten Menschen bewegt. Manchmal aber – auch das ein Fazit der Studie – schwappen Twitterdebatten über in die Welt der 96 Prozent, die nicht twittern.
Als die ersten #MeTwo-Tweets in die Welt gesetzt wurden, war in Ravensburg Rutenfest. Zehntausende feiernde Menschen in und um die Altstadt, tausende Gespräche an Essständen und Biertischen. Gülcin Bayraktar hat viel aufgeschnappt über Özil, über angeblichen und echten Rassismus. Bayraktar, in einer türkischen Familie in Ravensburg geboren und seit elf Jahren aktiv im türkischen Akademikerverein Tavir, hat in den vergan- genen Jahren viele Gedanken und mindestens so viel Zeit investiert in Integration und Zusammenleben.
Am Fall Özil und der #MeTwoDebatte hat sie vor allem eines überrascht: Dass andere so überrascht waren. Der Fall Özil, sagt Bayraktar, spiegele ein Identifikationsproblem wieder, das Millionen von Menschen mit nicht deutschen Wurzeln in Deutschland hätten: Was macht meine Identität aus? Wo bin ich wirklich zu Hause? „Das war wohl unter dem Radar“, sagt Bayraktar. Bayraktar freut sich über #MeTwo. „Das ist eine Möglichkeit, Alltagsrassismus zu verarbeiten“, sagt sie. Aber auch das: „Es gibt sicher auch Leute, die eigene negative Erfahrungen aufschreiben – und sich selbst rassistisch verhalten.“Menschen migrantischer Herkunft müssten auch über Rassismus im Herkunftsland der Eltern oder Großeltern sprechen – über die Ablehnung etwa, die viele Deutschtürken beim Urlaub in der Türkei erleben.
Bayraktar sagt, sie nehme Alltagsrassismus jetzt stärker wahr. Kinder, die auf dem Schulhof als „Kanake“, als „Spaghettifresser“beschimpft werden – aber auch als „Kartoffel“. Eltern – mit deutschen wie mit ausländischen Wurzeln – die sich darüber aufregen, dass ihr Kind Kontakt hat mit einer Vorbereitungsklasse für Flüchtlingskinder. Aber ist es schlimmer geworden? Ist #MeTwo ein Alarmsignal dafür, dass der Rassismus wieder anschwillt?
Gülcin Bayraktar sieht die Probleme: Deutsche türkischer Herkunft, die sich nicht ernst genommen fühlen als Teil Deutschlands – und die dem autokratischen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zujubeln. Deutsche mit deutschen Wurzeln, die von „Flüchtlingswellen“lesen und das Gefühl bekommen, ihr Land werde überflutet. Bei- de Gruppen glauben, dass ein Mensch nur Deutscher sein kann oder Türke oder Italiener. Während #MeTwo bezeugen soll, dass Deutschland voll ist von Menschen mit mehreren Heimaten.
Damit haben viele Probleme. Wie die zwei älteren Herren, denen Ruhan Karakul 2010 im Zug begegnet ist. Sie war Rechtsreferendarin, fuhr von Mannheim in ihre Heimatstadt, ins badische Bühl. Ihre Abteilnachbarn fragten Karakul nach ihrem Ursprung, sie sehe ja nicht so deutsch aus. Dann dieser Dialog. Karakul: „Meine Eltern sind aus der Türkei zugewandert.“Einer der Herren: „Sie sind aber eine untypische Türkin. Sie stinken nicht nach Hammel oder Knoblauch.“
Erzählen, was passiert
Auch Karakul hat diese Geschichte auf Twitter geteilt, unter #MeTwo. Sie ist heute Rechtsanwältin, Spezialgebiet Strafrecht. Und Justiziarin des Zentralrats deutscher Sinti und Roma. Früher habe sie oft geschwiegen über erlebten Rassismus. Sie sagt: „Ich wollte nicht als Person gelten, die versucht, Mitleid zu erregen.“Heute erzählt sie, was ihr passiert ist. Karakul meint: „#MeTwo war überfällig. Ich kenne Leute, die deswegen ausgepackt haben.“Der Rassismus, sagt sie, sei immer dagewesen. Aber jetzt müssten sich mehr Menschen damit auseinandersetzen.
Als Ruhan Karakul vor 35 Jahren geboren wurde, nannte man Menschen italienischer, griechischer, türkischer Herkunft Gastarbeiter. Gekommen, um hier zu arbeiten – und um dann zu verschwinden. Viele Gastarbeiter lebten in Gemeinschaftsunterkünften oder heruntergekommenen Wohnvierteln. Anfang der 1980er-Jahre plante Bundeskanzler Helmut Kohl, die Hälfte der in Deutschland lebenden Türken binnen vier Jahren aus Deutschland auszuweisen. Heute hat jeder vierte Mensch in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund – also mindestens einen Elternteil, der ohne deutschen Pass geboren ist.
Die Ravensburgerin Gülcin Bayraktar sagt: „Man merkt, wie bunt es ist. Die Menschen trauen sich, aufeinander zuzugehen“. „Eigentlich“, sagt sie, „ist #MeTwo fast zu wenig.“Es gebe ja viele Menschen, die noch mehr als zwei Heimaten haben.
„#MeTwo war überfällig. Ich kenne Leute, die deswegen ausgepackt haben.“Ruhan Karakul