Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Nicaragua kämpft um die Freiheit
Ein ganzes Land im Protest gegen seinen brutalen Machthaber – Mehr als zehntausend Menschen sind geflüchtet
MASAYA/MANAGUA - Vier Monate nach Beginn der Proteste gegen die Regierung in Nicaragua sucht die Opposition nach neuen Wegen des Widerstands. Die Repression gegen Jugendliche geht weiter. Aber es gibt auch Ermutigung – wie die Rückkehr von Pfarrer Edwin Román Calderón in seine Kirchengemeinde San Miguel in Masaya beweist.
Als sich die Tür der Sakristei um kurz nach acht Uhr öffnet, brandet Applaus auf, noch bevor der Mann in der grünen Soutane zu sehen ist. Gemessenen Schrittes geht Pfarrer Edwin Román einmal das Kirchenschiff ab, ihm folgt ein Ministrant mit rustikalem Holzkreuz. Der Beifall dringt durch die zu allen Seiten offenen Türen der einfachen Kirche auf die Straße hinaus, Passanten bleiben stehen, betreten vereinzelt das Gotteshaus. Es ist ein Sonntag – Pfarrer Edwin Román Calderón ist wieder zurück in seiner Kirche San Miguel von Masaya. Die Menschen danken es ihm mit lang anhaltendem Beifall.
Der Geistliche mit den dichten Augenbrauen und der leisen Stimme tritt an die Kanzel, richtet das Mikrofon und sagt dann: „Dieser Applaus ist für Christus und für Nicaragua“. Es sind viele Frauen, Kinder und Alte zur Frühmesse gekommen, nur Jugendliche und junge Männer sieht man kaum. Dann spricht Pfarrer Edwin vom Frieden, der Gesundheit, und der Würde, die Nicaragua fehle. Er nennt es das „täglich Brot“.
Mehr als 30 Tote in Masaya
In diesen aufgewühlten Tagen in Nicaragua, in denen ein Volk gegen seinen brutalen Machthaber aufgestanden ist, musste Diözesanpriester Román seine Gemeinde drei Wochen lang alleine lassen und in der 30 Kilometer entfernten Hauptstadt Managua untertauchen. Die Schergen von Machthaber Daniel Ortega bedrohten den Geistlichen wegen seines Einsatzes für die Jugendlichen, die in Masaya zwischen April und Juli auf die Barrikaden gegangen sind und gegen staatliche Sicherheitskräfte und regierungstreue Paramilitärs die Freiheit verteidigt haben.
Masaya war die von den bewaffneten Auseinandersetzungen am härtesten getroffene Stadt. Mehr als 30 Menschen kamen dort in den drei Monaten der Gefechte ums Leben. Und mitten im Zentrum stand die kleine weiße Kirche San Miguel, wovon zahlreiche Einschusslöcher künden. „Überall um uns rum standen Barrikaden“, erzählt der 58-Jährige Pfarrer später. „Es war wie im Krieg.“Edwin Román ging todesmutig hinter die Barrikaden, rettete Verletzte, zog Tote heraus, tauschte Gefangene beider Seiten aus. Seine Kirche und das Pfarrhaus wurden zentraler Zu- fluchtsort, Krankenstation, Leichenschauhaus.
Zum Ende der Messe fragt Pfarrer Edwin, welches Wunder sich die Menschen erbitten. Einen Moment steht die Frage in der tropischen Schwüle dieses Morgens. Dann antwortet eine Frau in der dritten Reihe leise: „Ich bete für ein Wunder für die Emigrierten“, eine andere Frau stimmt ein und fordert „Gerechtigkeit“, dann ein Mann noch lauter: „Ein Wunder für die Gefolterten.“
Die Gläubigen könnten auch noch für die Untergetauchten, die zu Tode Erschrockenen, die Schlaf- und Ratlosen eine Fürbitte äußern. Wenn man vier Monate nach Beginn der Proteste mit den Menschen in Nicaragua spricht, dann hat man den Eindruck, einem Land in tiefer Verunsi- cherung, Ratlosigkeit, aber mit dem festen Willen zur Veränderung zu begegnen. Ein Land, das von den Ereignissen der vergangenen fast vier Monate überrollt wurde wie ein Tsunami. Aber nun, nachdem die vor allem jungen Menschen auf die Barrikaden gegangen sind, nach 400 Toten, Hunderten Inhaftierten, nach Verschwundenen und Gefolterten, Tausenden Geflüchteten und der scheinbaren Rückkehr zur Normalität fragen sich die Menschen: Wie soll es weitergehen? Eine Option ist die Flucht. Mehr als zehntausend Menschen haben seit dem 18. April das kleine Land verlassen.
An jenem Tag schlug ein eigentlich friedlicher Protest gegen eine geplante Reform der Sozialkassen in einen landesweiten Aufstand gegen eine ehemals linke Regierung um. Es war der Beginn einer neuen, einer jungen Revolution in Nicaragua.
Denn die Jugend hat sie angezettelt und treibt sie voran. Erst später schlossen sich Bauern, Intellektuelle, die Zivilgesellschaft und schließlich das ganze Land dem Protest an. Es ist der Aufstand gegen ein Herrscherpaar Ortega/Murillo, das sich den Staat und das Land zu eigen gemacht hat, Widerspruch unterdrückt, korrupt ist, die Institutionen gleichgeschaltet hat und das vor allem jungen Menschen keine Perspektive bieten kann. Nicaragua ist auch nach elf Jahren scheinbar linker und sozialer Politik nach Haiti noch immer das zweitärmste Land Lateinamerikas.
Aber es ist ein ungleicher Kampf, anders als Ende der 1970-er Jahre. Damals versuchte die Sandinistische Befreiungsfront FSLN, Somoza mit Waffen zu stürzen. „Heute denkt hier niemand daran, zu den Waffen zu greifen, um Ortega zu stürzen“, sagt der Schriftsteller Sergio Ramírez. „Dies ist ein ziviler Aufstand des Volkes, der das ganze Land erfasst hat.“Jungen und Mädchen von kaum einmal 20 Jahren kämpfen mit Schleudern, Steinen und hausgemachten Waffen gegen aufgerüstete Spezialeinheiten, Polizisten und Paramilitärs, die mit Kriegswaffen und Scharfschützen ohne Rücksicht auf Verluste töten.
„Nicaragua ist seit dem 18. April ein anderes Land“, ist ein Satz, der einem überall begegnet. Lesther Alemán sagt ihn zum Beispiel, ein groß gewachsener junger Mann von 20 Jahren mit tiefer Stimme. Er studiert Journalismus an der JesuitenUniversität UCA in Managua. Wenn man Alemán zum Gespräch treffen will, muss man Mittelsmänner kontaktieren. Seit Mitte Mai lebt er versteckt, aus Angst um sein Leben.
Alemán ist eines der weniger Gesichter dieses Protestes, der keine Führer oder Sprecher hat. Der Student wurde wegen seiner Courage bekannt, weil er beim ersten Dialogversuch zwischen Oppositionsgruppen und Regierung am 16. Mai gegen Ortega aufstand, ihn sichtlich erregt zum Abdanken aufforderte: „Das hier ist kein Dialogforum, hier geht es darum, Ihren Rückzug zu besprechen,“sagte Alemán. Und ganz Nicaragua sah ihm dabei live im Fernsehen zu. Ortegas Mandat endet erst 2021.
„Vier Stunden später bekam ich die erste Drohung“, sagt der Student beim Gespräch an einem geheimen Ort. Seit jenem Tag ist er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, seine Eltern hat er kürzlich außer Landes gebracht: „Die Regierung hat ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt“, beteuert der Student, der so druckreif spricht, dass man glauben könnte, einen gestandenen Politiker vor sich zu haben.
Neue Formen des Widerstands
Auch wenn die Straßenkämpfe vorbei sind, geht die Repression weiter. Polizisten und Paramilitärs durchsuchen Häuser von vermuteten oder bekannten Regierungsgegnern, stecken Eltern in den Knast, die ihre Kinder in die Klandestinität geschickt haben.
In Masaya ist Pfarrer Edwin unterdessen wieder in sein Pfarrhaus eingezogen. „Nicaragua ist nicht besiegt“, sagt er. „Es ist eine Phase der Suche – nach neuen Formen des Widerstands.“Aber eines ist sich der Geistliche sicher: „Das Volk wird dem Präsidenten nicht erlauben, noch drei Jahre weiter zu regieren. Nicaragua wird bald frei sein.“