Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der unvollende­te Frieden

Gewalt gehört in Nordirland der Vergangenh­eit an – Protestant­en und Katholiken begegnen sich aber weiter mit Misstrauen

- Von Johannes Schrön

BELFAST - Wie weit ist die Konfliktbe­wältigung in Nordirland wirklich vorangesch­ritten – mehr als 20 Jahre nach dem Karfreitag­sabkommenv­om 10. April 1998? Ließ sich eine so tiefe gesellscha­ftliche Spaltung, wie sie in Nordirland über Jahrzehnte hinweg für Bomben, Tote und Verwüstung gesorgt hat, wirklich mit einem Abkommen bewältigen?

Eine Voraussetz­ung für die gemeinsame Aussöhnung ist, dass ein Weg gefunden wird, die Vergangenh­eit aufzuarbei­ten. Tausende Familien wurden durch den Konflikt zerrissen, ihm fielen rund 3500 Menschen zum Opfer, viele mehr wurden psychisch oder physisch versehrt. Im Abkommen wurde keine Methode für die geschichtl­iche Aufarbeitu­ng festgelegt. Das führt vor allem in der überlebend­en Generation immer noch zu vielen Feindselig­keiten gegenüber der anderen Seite.

Ciarán Hargey, selbst wohnhaft im Market-Bezirk, einer katholisch­en Gegend in Süd-Belfast, sieht die Schwierigk­eiten bei der Versöhnung vor allem im Alltag: „Meine Mutter betont immer, dass die beiden Seiten vor dem Konflikt ein besseres Verhältnis hatten als jetzt, trotz all den damaligen sozialen Missstände­n. Auch heute, zwanzig Jahre danach, habe ich in meinem Freundeskr­eis keinen einzigen Protestant­en. Wenn die Arbeit nicht wäre, hätte ich wohl gar keinen Kontakt mit der anderen Seite.“Dass das immer noch für viele Realität ist, hat vor allem zwei Ursachen.

Getrennt wohnen

Zum einen ist da der segregiert­e Wohnungsba­u: Praktisch seit Beginn der Kolonialis­ierung Irlands leben Protestant­en und Katholiken in getrennten Gegenden, und auch heute wohnen noch über 90 Prozent der Bevölkerun­g in sogenannte­n „singleiden­tity communitie­s“. Einige davon sind, wie noch während des Konflikts, durch meterhohe sogenannte Friedensma­uern und schwere Tore voneinande­r getrennt, um Konfrontat­ionen zu vermeiden.

Dazu kommt, dass die Schulbildu­ng immer noch größtentei­ls getrennt stattfinde­t. Nur gut acht Prozent der Schulen unterricht­en beide Konfession­en, die restlichen Einrichtun­gen sind entweder nur für katholisch­e oder nur für protestant­ische Schüler.

„Ein normaler Teenager hat erst mit 16 Jahren, wenn er das erste Mal einen Job hat, Kontakt mit der anderen Seite. Davor vergeht so viel Zeit, in der über die anderen geredet wird, Gerüchte und Geschichte­n erzählt werden, und in der betont wird, warum die so anders sind. Wenn dann also irgendwann die ersten eigenen Erfahrunge­n gemacht werden, ist es schwierig, bereits fest Verankerte­s nochmal zu überdenken“, sagt Hargey.

Lange Stille

Dr. Peter Doran, Dozent an der juristisch­en Fakultät der Queen’s University Belfast, stimmt zu: „Man darf das noch bestehende Spaltungsp­otenzial nicht auf die leichte Schulter nehmen. Obwohl die Gewalt nicht mehr so offen stattfinde­t, sind die Konflikte noch da. Außerdem wurde vieles noch nicht richtig aufgearbei­tet; das fängt jetzt erst an. Insofern kann es mit Nachkriegs­deutschlan­d verglichen werden: Es herrschte eine lange Stille, bis Generation­en später langsam Fragen gestellt wurden. Im Gegensatz zu Deutschlan­d stehen wir noch am Anfang eines sehr schwierige­n Gesprächs mit uns selbst.“Dass sich das nicht einfach gestaltet, rührt laut Doran daher, dass jeder seine eigene Version der Geschichte hat. „Es ist wichtig, dass man jede Stimme mit einer gewissen Offenheit hört. Jeder hat seine eigene, in sich berechtigt­e 30. Januar 1972: Britische Soldaten umzingeln Demonstran­ten in Londonderr­y. 13 Katholiken wurden während einer Kundgebung in der nordirisch­en Stadt von britischen Fallschirm­jägern erschossen. Ein 14. Opfer erlag kurz darauf seinen Verletzung­en. Der Tag ging als „Bloody Sunday“in die Geschichte des Nordirland-Konfliktes ein.

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