Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
3677 Fälle von Missbrauch in der Kirche
Bischofskonferenz nennt Ergebnisse einer Studie „bedrückend und beschämend“
BONN (dpa/epd/KNA) - Jahrzehntelanger Missbrauch und Vertuschung: Die vorab bekannt gewordene Studie der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) über den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in der katholischen Kirche präsentiert dramatische Zahlen, wie mehrere Medien am Mittwoch berichteten. Dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“zufolge erfasst sie zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 sexuelle Vergehen durch 1670 Kleriker an überwiegend männlichen Minderjährigen. Die Wochenzeitung „Die Zeit“berichtet von Aktenvernichtung. Ursprünglich sollte die Studie am 25. September vorgestellt werden.
Die Opfergruppe „Eckiger Tisch“und die Initiative „Wir sind Kirche“sprachen von erschütternden Zahlen. Die Deutsche Bischofskonferenz kritisierte die Vorab-Veröffentlichung scharf, nannte die Ergebnisse aber „bedrückend und beschämend“.
Den Berichten zufolge werteten die Autoren im Auftrag der DBK mehr als 38 000 Personal- und Handakten aus den 27 deutschen Bistümern aus. Für den Zeitraum von 1946 bis 2014 seien dort sexuelle Vergehen an 3677 überwiegend männlichen Minderjährigen protokolliert worden, hieß es in dem „Spiegel“-Vorab. Insgesamt 1670 Kleriker hätten diese Taten begangen. 4,4 Prozent aller Kleriker der deutschen Bistümer waren demnach mutmaßlich Missbrauchstäter. Mehr als jedes zweite Opfer sei höchstens 13 Jahre alt gewesen, in jedem sechsten Fall sei es zu Formen der Vergewaltigung gekommen.
Der bei der DBK für Missbrauchsfragen zuständige Trierer Bischof Stephan Ackermann sagte, die Kirche wisse um das Ausmaß des Missbrauchs. „Es ist für uns bedrückend und beschämend.“
Die erwähnten Fälle sind vermutlich nur ein Teil dessen, was tatsächlich geschah. „Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt“, schreiben die Autoren der Studie nach „Spiegel“-Angaben. Die „Zeit“zitiert: „In einigen Fällen fanden sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulation.“ In mindestens zwei Bistümern seien Akten vernichtet worden. Angesichts dessen kommentierte die katholische Reformbewegung „Wir sind Kirche“, die Ergebnisse seien „ungeheuerlich, aber wohl nur die Spitze des Eisbergs“.
Kein Ende in Sicht
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hatte kürzlich bereits kritisiert, dass für die Studie nicht alle Bistümer ihre Archive geöffnet hätten. Ackermann bestritt das.
Beunruhigend ist: Die Autoren der Studie sehen den Berichten zufolge keinen Anlass zu der Annahme, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt“. Die Serie der Missbrauchsfälle dauere stattdessen bis zum Ende des Untersuchungszeitraums an.
Auffällig häufig seien die beschuldigten Kleriker einfach in eine andere Gemeinde versetzt worden – ohne dass diese Bescheid gewusst habe. Die Bereitschaft der Kirche, Täter auch zu bestrafen, müsse „als nicht sehr ausgeprägt“angesehen werden, hieß es.
Bei der Frage nach den Gründen für den anhaltenden Missbrauch hätten sich die Autoren zurückhaltend gezeigt, schreibt der „Spiegel“. Allerdings seien die Experten zu dem Schluss gekommen, dass „die grundsätzliche Ablehnung“der katholischen Kirche zur Weihe homosexueller Männer „dringend zu überdenken“sei. Außerdem müsse die Frage erlaubt sein, ob die Verpflichtung zum Zölibat – zur Ehelosigkeit des Priesters – „ein möglicher Risikofaktor“sei.
Matthias Katsch, der im Jahr 2010 die Diskussion über den Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg mit ins Rollen brachte, zeigte sich erschüttert. Die Kirche in Deutschland sei wie in anderen Ländern „in ein System aus Missbrauch und Vertuschung verstrickt“und habe es „über Jahrzehnte verstanden, die Öffentlichkeit darüber zu täuschen“.
Unterdessen ermittelt die amerikanische Justiz in diversen US-Bundesstaaten wegen Tausender früherer Fälle von sexuellem Missbrauch Geistlicher an Minderjährigen. In Australien steht der vatikanische Finanzminister, Kardinal George Pell, wegen Missbrauchsverdachts vor Gericht.