Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Emotionale Themen nüchtern abgearbeitet
„Deutschland spricht“: Marco Sinz und Lena Nothelfer liegen in ihren Ansichten weit auseinander – trotzdem sind sie sich am Ende erstaunlich einig
RAVENSBURG - Eigentlich müsste es krachen, wenn Marco Sinz und Lena Nothelfer aufeinandertreffen. Bei sechs von sieben Themen sind sie anderer Meinung. Trump, Muslime, Wohlstand, MeToo, Autofreie Städte, Grenzkontrollen. Für die Aktion „Deutschland spricht“, bei der sie sich angemeldet haben, sind sie damit eine ideale Paarung. Menschen mit unterschiedlichen Ansichten sollen mit Ansage streiten. Das tun Sinz und Nothelfer auch. Aber es kracht nicht, es knirscht höchstens.
Gesehen haben sie sich noch nie, den Treffpunkt per Mail ausgemacht. Viel wissen sie nicht übereinander, außer dass sie unterschiedliche Meinungen haben. Beide sind etwa gleich alt – Nothelfer 31, Sinz 30 –, beide tragen sportliche Kleidung und beide kommen aus Ravensburg oder Umgebung. Die ersten Unterschiede zeigen sich, als zu Beginn beide ein bisschen von sich erzählen. Sinz ist gelernter Baustoffprüfer, hat sich ein zweites Standbein als Veranstalter aufgebaut und macht selbst Musik. Nothelfer ist Kulturmanagerin, stellvertretende Leiterin des Museums Humpis-Quartier und wandert gerne.
Am Anfang ist die Situation seltsam, in dieser Beurteilung werden sich beide nach knapp zweieinhalb Stunden einig sein. „Die Themen ergeben sich normalerweise einfach, hier haben wir praktisch eine Liste“, sagt Lena Nothelfer. Und diese Themenliste arbeiten beide ab. Bei manchen Punkten finden sie schnell einen Konsens, obwohl die Beweggründe andere sind. Das überrascht die beiden selbst.
Etwa bei der Frage, ob Deutschland seine Grenzen besser kontrollieren soll. Ja, sagt Sinz, weil klar sein müsse, wer ins Land kommt. Nein, sagt Nothelfer, weil offene Binnengrenzen der größte Vorteil der EU seien. Worin sie sich einig sind: Es sollten eher die EU-Außengrenzen kontrolliert und es sollte eine europäische Lösung für die Flüchtlingsverteilung gefunden werden.
Kontroverser wird es bei der Diskussion darüber, ob die MeToo-Debatte etwas Positives bewirkt hat. „Nein“, sagt Sinz. „Die Debatte ist teilweise einfach überspitzt.“Lena Nothelfer sieht das anders. „Es war ein Tabuthema, über das Frauen nicht oft gesprochen haben, obwohl viele schon sexuelle Belästigung erlebt haben“, sagt sie. „Gerade junge Mädchen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.“Sinz leuchtet das ein: „Für mich persönlich hat die Debatte nichts bewirkt, aber ich kann verstehen, warum sie für junge Menschen wichtig sein kann.“
Immer wieder passiert es, dass einer der beiden Diskutanten plötzlich Verständnis für die Thesen des anderen entwickelt. Das Gespräch verläuft nüchtern und höflich, trotz der emotionalen Themen. Am längsten debattieren die beiden über die Frage, ob es den Deutschen heute besser geht als vor zehn Jahren. Marcus Sinz macht sein Nein an den steigenden Lebenshaltungskosten und den hohen Mietpreisen fest. „Früher hat sich jeder Lkw-Fahrer ein Haus bauen können, heute kenne ich kaum noch Leute, die sich das leisten können“, sagt er.
Was die Mietpreise angeht, gibt Lena Nothelfer ihrem Gegenüber recht. „Die Mieten sind absurd“, sagt sie. Trotzdem gehe es den Deutschen nicht schlechter. Ein Indikator dafür sei ein kleiner Babyboom in den vergangenen drei Jahren. Sinz habe eher den Eindruck, als sei es mit einem durchschnittlichen Gehalt nicht mehr möglich, eine Familie zu ernähren. „Das Problem ist die Lohnpolitik“, pflichtet Nothelfer bei. „Die Gehälter sind nicht mit den Kosten gestiegen.“
Entweder die AfD oder Die Linke
Das Gespräch entfernt sich zum ersten Mal von der Frageliste: „Hast du gewählt?“, fragt Nothelfer. „Ist dir das wichtig?“Es folgt eine längere Pause. „Es gäbe bessere Arten, meine Meinung zu vertreten“, sagt Sinz. Zu 100 Prozent fühle er sich von keiner Partei vertreten. „Seltsamerweise noch am ehesten von der AfD oder den Linken“, sagt er. Die Politiker seien zu weit weg, um das Volk zu vertreten. „Mit einer direkten Demokratie wie in der Schweiz gäbe es wahrscheinlich weniger Fehlentscheidungen als bisher.“
Etwa, was die Waffenexporte der Bundesrepublik angehe. „Ich verstehe nicht, warum das kein größeres Thema ist“, sagt Sinz. Er habe das Gefühl, dass die Medien häufig zu subjektiv berichten. Auch Nothelfer kennt dieses Gefühl: „Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass etwas einseitig berichtet wird.“
Von der AfD fühlt sie sich allerdings nicht angesprochen, stellt sie klar. „Ich sehe keine konkreten Programmpunkte.“„Doch“, entgegnet Sinz. „Beispielsweise die strikteren Einreisekontrollen“. Verbessern ließe sich damit seiner Meinung nach auch die Wohnungsnot, weil weniger Menschen ins Land kämen. Nothelfer schüttelt den Kopf. „Die Bevölkerung schrumpft ja trotz der Zuwanderung“, argumentiert sie. Das Wohnungsproblem entstehe eher durch Spekulation und Leerstände. „Das sind reale Ursachen.“
Auf einen Nenner kommen sie in diesem Punkt nicht. Dennoch, oder gerade deswegen, sind beide am Ende zufrieden. „Wir waren uns bei vielem einig“, sagt Sinz. Nothelfer nickt. „Auch wenn wir anderer Meinung waren, war es wichtig, andere Argumente zu hören. Im Freundeskreis sind sich immer alle einig.“