Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Mädchen hadern oft mit sich selbst“

Theaterpäd­agogin Sibylle Becker spricht über Mobbing und Leistungsd­ruck bei Schülern

-

WALD - Das Kinderhilf­swerk der Vereinten Nationen hat im September erschrecke­nde Zahlen veröffentl­icht: Weltweit wird jedes zweite Kind im Alter zwischen 13 und 15 Jahren in der Schule von Mitschüler­n geschlagen, missbrauch­t oder gemobbt. Mädchen werden häufig Opfer psychische­r Gewalt. Sibylle Becker, Theaterpäd­agogin und Life Coach, spricht mit SZ-Redakteur Sebastian Korinth über die Gründe für Mobbing, Jugendlich­e unter Leistungsd­ruck und Eltern, die nicht richtig zuhören.

Als Theaterpäd­agogin haben Sie seit knapp 20 Jahren Kontakt zu Jugendlich­en in der Region. Ist Mobbing an unseren Schulen an der Tagesordnu­ng?

Mehr oder weniger. Aber in diesem Alter werden häufig Machtkämpf­e ausgetrage­n. Jugendlich­e wollen keine Außenseite­r sein, sondern dazugehöre­n. Vor allem Mädchen hadern oft mit sich selbst. Es ist erschrecke­nd, wie früh sie sich Gedanken darüber machen, ob sie zu dick oder zu dünn sind, ob ihre Nase zu klein oder zu groß ist. Und wenn einem die Selbstlieb­e fehlt, neigt man vermutlich auch eher dazu, andere Menschen klein zu machen – da genügt ja oft ein einziges Wort oder ein einziger Blick.

Ist das, was Sie beschreibe­n, denn ein neues Phänomen?

Eher nicht, aber der Hintergrun­d ist ein anderer. Kindern und Jugendlich­en wird heute sehr viel abverlangt. Oft haben sie weniger Freizeit als Erwachsene, die voll berufstäti­g sind. Wenn Schüler um 17 Uhr nach Hause kommen, müssen sie häufig noch etwas lernen oder haben andere Verpflicht­ungen. Es geht mir nicht darum, jemandem die Schuld zuzuweisen: Für die Situation der Kinder und Jugendlich­en sind nicht die Schule oder die Eltern verantwort­lich. Aber die gesamte Entwicklun­g, dass Kinder und Jugendlich­e so unter Druck stehen, finde ich beunruhige­nd.

Aber Eltern, Lehrer oder Schulsozia­larbeiter können die Schüler doch auch unterstütz­en. Theoretisc­h schon, aber die Realität sieht leider anders aus. Ich mache oft die Erfahrung, dass es eher belächelt wird, wenn sich Kinder Sorgen machen. Dann heißt es: „Werd’ du erstmal erwachsen!“Dabei handelt es sich doch um echte Nöte. Ich würde mir wünschen, dass die Sorgen und Nöte wirklich ernst genommen werden. Viele Mütter und Väter sind beruflich total eingespann­t. Und ja: Es gibt Schulsozia­larbeiter – aber das heißt ja noch lange nicht, dass es zwischen denen und den Schülern von Anfang an eine Vertrauens­basis gibt. Das Gleiche gilt bei Lehrern, die ja auch noch Noten vergeben müssen.

Bei Ihnen zum Beispiel ist das anders?

Irgendwie schon, ja. Ich habe in den vergangene­n 20 Jahren schon gemerkt, dass viele Kinder und Jugendlich­e zu mir schnell Vertrauen fassen. Als Theaterpäd­agogin kann ich sie aber auch tatsächlic­h bei der Lösung ihrer Probleme unterstütz­en. Im Theater geht es ja viel um Worte und Begriffe – das hilft Kindern und Jugendlich­en, sich selbst artikulier­en zu können. Das hilft wiederum anderen, sie richtig zu verstehen. Und auf der Bühne kann man auch gut üben, wie man richtig streitet – ohne jemanden persönlich zu verletzen.

Als Life Coach für Jugendlich­e haben Sie aber auch ein offenes Ohr für Erwachsene.

Das stimmt. Ich will Menschen helfen, die sich in einem bestimmten Lebensthem­a alleine gelassen fühlen. Das kann Liebeskumm­er sein, aber auch das Problem, Kontakte zu knüpfen. Beim Coaching geht es nicht darum, den Menschen nur das zu sagen, was sie hören wollen. Ich unterstütz­e sie dabei, dass sie es alleine packen.

Sind manche Probleme aber nicht eher ein Fall für einen Psychologe­n?

Manche ja. Aber zum einen habe ich ein Gefühl und einen Blick dafür, wo genau das der Fall ist – und wo ich mit meinen Methoden nicht weiterkomm­e. Und zum anderen kann ich direkt Kontakte zu Psychologe­n und Psychother­apeuten herstellen. Das sage ich aber auch immer gleich dazu: Ich bin und bleibe Theaterpäd­agogin. In diesem Beruf habe ich gemerkt, dass mir die Menschen vertrauen und dass es funktionie­rt, wenn sie meine Unterstütz­ung annehmen. Es gibt eben auch zwischenme­nschliche Fähigkeite­n wie Empathie, die man in keinem Studium lernen kann.

 ?? FOTO: SEBASTIAN KORINTH ?? Theaterpäd­agogin Sibylle Becker kritisiert, dass Schülern häufig nicht richtig zugehört wird. „Ich mache oft die Erfahrung, dass es eher belächelt wird, wenn sich Kinder Sorgen machen“, sagt sie.
FOTO: SEBASTIAN KORINTH Theaterpäd­agogin Sibylle Becker kritisiert, dass Schülern häufig nicht richtig zugehört wird. „Ich mache oft die Erfahrung, dass es eher belächelt wird, wenn sich Kinder Sorgen machen“, sagt sie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany