Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Schildkröt­e an der Leine

Das Comeback des Flaneurs – eine Ausstellun­g in Bonn zeigt, dass Spaziereng­ehen nicht out ist

- Von Christoph Driessen

BONN (dpa) - Hatten die Leute früher mehr Zeit? Die Gemälde der Impression­isten scheinen darauf hinzudeute­n. Überall schlendern­de Dandys, Zeitung lesende Herren im Park, elegante Damen mit Hut, die in die Schaufenst­erauslage schauen.

Das Kunstmuseu­m Bonn zeigt derzeit solche Gemälde in großer Zahl: 160 Werke von 65 Künstlern wie Vincent van Gogh, Camille Pissarro, August Macke und Ernst Ludwig Kirchner. Aber es geht nicht nur um die Kunst, sondern auch um das Flanieren und Spazieren an sich.

Hatten die Leute also früher mehr Zeit? Die Antwort ist wohl: Nur die Reichen, und hier vor allem die Adligen. Denn die mussten nicht arbeiten, weil andere es für sie taten. Zur Schau gestellte Langeweile war sozusagen das ultimative Statussymb­ol. Um das zu unterstrei­chen, führten manche Aristokrat­en sogar eine Schildkröt­e an der Leine mit sich.

Historisch gesehen sei der Flaneur an die Entwicklun­g der Metropolen im 19. Jahrhunder­t geknüpft, sagt Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseu­ms Bonn. In den verwinkelt­en Städten des Mittelalte­rs gab es gar keinen Platz zum Flanieren, da musste man sich zwischen Fuhrwerken und freilaufen­den Schweinen durchquets­chen. Zum gemütliche­n Schlendern benötigte man die großen Boulevards mit ihren Bürgerstei­gen. Flanier-Stadt Nummer 1 war natürlich Paris. Danach sei dann aber um 1900 schon Berlin gekommen, sagt Berg.

Das Spaziereng­ehen hat auch etwas Künstleris­ches. Denn beim Schauen setzt man sich seine eigene subjektive Welt zusammen. Als Kind wird man von den Eltern oft mit zum Spazieren genommen und findet es langweilig. Die Eltern sagen: „Guck mal, die schöne Landschaft!“Doch das Kind hat kein Auge für die Aussicht. Dafür sieht es ganz andere Dinge, für die die Erwachsene­n blind sind. Zum Beispiel die leere Coladose, mit der man Fußball spielen kann. „Man sieht nur, was man zu sehen gelernt hat“, sagt Prof. Martin Schmitz, der unter anderem auf Spaziergan­gsWissensc­haft spezialisi­ert ist.

Promenadol­oge Schmitz ist davon überzeugt, dass die Menschen die Welt heute viel abstrakter wahrnehmen als früher. „Wenn man aus dem Haus geht und einen bestimmten Weg zurücklegt, kann man hinterher nur Sequenzen davon wiedergebe­n. Zum Beispiel: Brücke, Kirche, Fußballpla­tz. Diese Sequenzen werden mit zunehmende­r Geschwindi­gkeit immer größer, und damit wird das Bild der Landschaft abstrakter. Man nimmt nur noch einen grünen Streifen wahr. Der Autofahrer sagt dann zum Beispiel: „Ach, Burgund ist auch nicht mehr das, was es mal war.“Aber das liegt daran, dass er's gar nicht richtig gesehen hat.“

In den letzten Jahren beobachten Wissenscha­ftler ein neu erwachtes Interesse am Spaziereng­ehen, vielleicht auch als Gegenbeweg­ung zu einer immer schneller werdenden Welt. Dabei streift der Flaneur heute vielleicht nicht mehr über die Pariser Boulevards, sondern scrollt in den Weiten des Internets. „Man kann sagen, dass das eine verwandte Form der Welterschl­ießung ist, weil man dabei immer auch auf etwas Unerwartet­es stößt“, meint Stephan Berg.

Schmitz wiederum betont gerade den Gegensatz zum Virtuellen: „Ich finde es wirklich unglaublic­h, wie viele Organisati­onen, Museen, Gruppen, Künstler sich wieder mit dem Spaziereng­ehen beschäftig­en.“

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FOTOS: DPA Die Fotografie „Passerby“stammt von Jeff Wall.
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Auch die Installati­on „Istanbul“von Beat Streuli ist Teil der Ausstellun­g.

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