Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Mays Plan gegen den Chaos-Brexit
Ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU scheint greifbar – doch eine wichtige Frage bleibt offen
LONDON - Ebnet Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten doch noch den Weg zu einer einvernehmlichen Brexit-Lösung? Nach wochenlangen Warnungen vor einem chaotischen EU-Austritt Großbritanniens will Premierministerin Theresa May offenbar diese Woche ihre Minderheitsregierung auf einen Deal festlegen. Erhält die konservative Politikerin das Einverständnis des Kabinetts für den rund 50-seitigen, mit Brüssel besprochenen Plan, könnten die 27 Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in etwa vierzehn Tagen ihre Zustimmung erteilen.
Den „geheimen Brexit-Deal“der Regierungschefin skizzierte am Wochenende die gewöhnlich gut informierte „Sunday Times“(ST) in einer ausführlichen Titelgeschichte. Ein Sprecher Mays reagierte darauf ähnlich wie vergangene Woche auf einen Artikel der „Times“, in dem von einer Vereinbarung für die wichtige Finanzbranche die Rede war: „reine Spekulation“.
Dem ST-Artikel zufolge hat May ihre bereits bekannte Idee ausgebaut, mit der Kontrollen an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik im Süden vermieden werden sollen. Danach würde das gesamte Königreich zunächst in der Zollunion verbleiben. Nordirland erhielte zudem privilegierten Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Agrarprodukte. Dafür sind Kontrollen zwischen der irischen und der britischen Insel nötig. Sie sollen aber, soweit das Entgegenkommen der EU, von britischen Fachleuten vor Ort statt in englischen, walisischen und schottischen Häfen stattfinden. So wäre der Eindruck vermieden, Brüssel wolle Nordirland vom Rest des Landes abkoppeln.
Was passiert nach der Zollunion?
Um die Brexit-Ultras in den eigenen Reihen zusätzlich zu beschwichtigen, wünscht sich May die Möglichkeit einer zeitlichen Begrenzung der Zollunion. Dies könnte nach Abschluss eines Freihandelsvertrages erfolgen. Offen bleibt, wie danach der Status Nordirlands geregelt wird. Experte Charles Grant vom Thinktank CER reagiert daher skeptisch auf die ST-Veröffentlichung: „Die EU braucht immer noch eine Auffanglösung für Nordirland“, sagte Grant der „Schwäbischen Zeitung“.
Bei der Kabinettsitzung am Dienstag steht der Brexit auf der Tagesordnung. May-Loyalisten wie Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark betonen die politische Dimension der Entscheidung: Keinesfalls dürfe die konservative Regierung einen Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung riskieren – oder Neuwahlen. Denn die könnten den linken Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn in die Downing Street befördern. Labour ist zwar für einen Verbleib in der Zollunion mit der EU – doch Corbyn dürfte der Fraktion eine Ablehnung des May-Plans vorschreiben, weil er Neuwahlen erzwingen will. Dagegen wiederum regt sich Widerstand bei einigen dutzend LabourAbgeordneten, denen die Vermeidung eines Chaos-Brexit wichtiger ist als der Fraktionszwang.
Derweil wächst die Unterstützung für ein zweites Brexit-Votum auch in der Wirtschaft. Mehr als 70 Unternehmer veröffentlichten in der ST einen Brief, in dem sie eine erneute Abstimmung über den EU-Austritt forderten.