Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Fitnesstraining für den Alltag in der digitalen Welt
Mit einem Bootcamp und der Hilfe von Experten will eine Allgäuer Schule die digitale Generation vor den Tücken ihrer Zeit warnen
ARGENBÜHL - „Wer von euch weiß eigentlich, was ein Influencer ist“, fragt Leo Eckel, der selbst einer ist und eine Horde gespannter Schüler mit Handy in der Hand vor sich sitzen hat. Ein Drittel der Klasse meldet sich auf Eckels Frage. „Okay“, sagt er und hakt noch mal genauer nach: „Und wer weiß nicht, was ein Influencer ist?“Vier Kinder heben die Hand. Und der Rest? Der ist Zielgruppe Nummer 1 beim dreitägigen „Digi Camp“der Gemeinschaftsschule Argenbühl. Das Ziel: aufklären, aber spaßig.
Nacktbilder per WhatsApp verschicken, Partyvideos in Instagram hochladen oder dem ungeliebten Mitschüler bei Facebook eins auswischen: „Sexting“, „Mobbing“und Co. sind Phänomene, die Maria Stemmer, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule Argenbühl, bekannt sind. Schüler werden aus WhatsApp-Gruppen ausgeschlossen, Beleidigungen werden versendet. Laut der Schulsozialarbeiterin Vera Müller sollen auf dem Schulhof sogar Nacktbilder herumgeschickt worden sein – die Reue kam hinterher.
Vor solchen Kurzschlussreaktionen will Stemmer ihre Schüler schützen. Eine Methode zur Vorbeugung ist das strikte Handyverbot, das an der Schule gilt. Zückt ein Schüler sein Telefon während des Unterrichts oder in der Pause, wird es ihm abgenommen. Wird der Schüler erneut erwischt, werden die Eltern herbeizitiert.
Dieses Verbot hat Stemmer nun für drei Tage außer Kraft gesetzt. Seit Dienstag läuft an der Gemeinschaftsschule das „Digi Camp“. Dabei werden rund 100 Siebt- und Achtklässler drei Tage lang von Medienpädagogen, Psychologen, Ernährungsexperten sowie Social-Media-Stars im Umgang mit sozialen Netzwerken geschult. Ins Leben gerufen hat das Programm das Start-up-Unternehmen BG3000 mit Sitz in Bonn und Mannheim. Mit dem Ziel, die digitale Bildung weiter voranzutreiben, hat die GmbH bundesweit bereits 60 Camps mit mehr als 12 000 Schülern organisiert. Diese Woche steht das Start-upd er Gemeinschaftsschule in Argenbühl zur Seite.
„Wir haben viele Schüler, die sich als Youtuber versuchen“, sagt Schulleiterin Stemmer. Auch anderweitig würden sich die Schüler in den Sozialen Netzwerken ausprobieren. Verhindern kann Stemmer das selbst mit dem Handyverbot nicht, deshalb wolle sie sie wappnen. Nachdem es an Tag eins mit theoretischen Kursen zu den Themen Internetsucht und Respekt im Netz losging, werden an Tag zwei die Geheimwaffen gezückt. Einen vollen Tag lang können die Schüler auf Tuchfühlung mit ihren Social-Media-Stars gehen.
Eine davon ist die Youtuberin Jetpack Jay. Seit drei Jahren betreibt die 23- Jährige die Live strea ming plattformYouNow. In Argenbühlleit et sieden Kurs„YouTube–Bro ad ca stYourself“.N eben Selbstverm ar ktungs strategien im Internet spricht Jay, wie die Schüler sie nennen, bewusst emotionale Themen wie Selbst- und Fremdbild oder Mobbing an. Die Schüler wiederum verarbeiten diese Inhalte praktisch – in selbst gedrehten Videos inklusive Drehplan und Nachbesprechung.
Das kommt gut an. Jays Kurs ist voll, und die Kinder – ausgestattet mit Kamera und Handy – sind voll in ihrem Element. „Richtig cool“, findet die zwölfjährige Lara den Kurs. „Es ist mal was anderes, als die ganze Zeit im Unterricht zu sitzen“, fügt ihre Klassenkameradin Tony hinzu.
Bis einer weint
Durch diesen Spaß und einen lockeren Umgang verspricht sich Jay, Zugang zu den Schülern zu erhalten. Den Lehrern als Respektspersonen des Alltags bleibt der oftmals verschlossen. So kann es der Youtuberin zufolge auch passieren, dass der ein oder andere Schüler am Ende mit Tränen in den Augen von schlimmen Erfahrungen aus dem Netz berichtet. Darauf ist die 23-Jährige eingestellt: „Ich habe einen schlechten Workshop gemacht, wenn am Ende keiner weint“, sagt sie mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen.
Auch der Kurs von Instagrammer Leo Eckel ist gut besucht. Er klärt die Schüler über die Möglichkeiten auf, mit der Plattform Geld zu machen. Eckel warnt aber auch vor den Tücken: „Das panische Greifen nach mehr Reichweite ist der falsche Weg“, sagt der 19-Jährige. Er habe nur 2500 Follower und könne davon leben, andere hätte 250 000 und könnten es nicht. Ihm sei es wichtig, sinnstiftend aufzutreten, sagt Leo Eckel. Bekannt geworden ist der Psychologiestudent als „Abiturcoach“bei Youtube, wo er Schülern mit seinen Ratgebervideos die Prüfungsangst nehmen will.
Dass das Social Web nicht nur Teufelszeug ist, weiß auch die Schulleitung. Für Stemmer ist die Hauptsache, die Schüler zum richtigen Zeitpunkt abzuholen; also bevor etwas ungewollt im Netz auftaucht und nie wieder verschwindet. Selbst wenn das an der Schule viel diskutierte Handyverbot bestehen bleiben sollte, gibt es immer noch die Zeit außerhalb der Schule, in der das Handy aus dem Leben nicht mehr wegzudenken ist. „Mir ist es einfach wichtig, dass die Schüler sich bewusst sind, wie sie sich im Netz bewegen“, sagt Stemmer. Auch wenn sie an die Eltern der Kinder appelliert, sei es die große Aufgabe der Schule, Präventionsarbeit zu leisten. Und die nimmt die Schulleiterin ernst.