Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ambitionslos
Michail Mischustin hatte niemand auf der Rechnung. Aber Wladimir Putin hat den obersten russischen Finanzbeamten überraschend als neuen Premierminister vorgeschlagen. Und Mischustin, 53, willigte ein; das Parlament bestätigte die Personalie am Donnerstag.
Der gebürtige Moskauer mit der schweren Kinnlade leitet die russische Steuerbehörde seit 2010. Laut seiner eigenen Steuererklärung verdiente Mischustin, studierter Ingenieur für Systemtechnik, 2018 umgerechnet 130 000 Euro. Vorher führte er zwei Jahre lang die Investitionsfirma UFG, die laut der Zeitung „Kommersant“in Russland mit der Deutschen Bank kooperierte. Von 1998 bis 2006 arbeitete er als Topbeamter in den russischen Finanzbehörden, davor war er Direktor einer IT-Firma.
Er gilt als gemäßigt liberaler Steuer- und Finanzexperte, 2010 verteidigte er eine Dissertation über die „Strategie zur Formierung von Eigentumsbesteuerung in Russland“. Und Mischustin ist nicht der erste Finanzbeamte, der unter Wladimir Putin Premierminister geworden ist. Vor ihm saßen Michail Fradkow, ebenfalls ein früherer Leiter der russischen Steuerbehörde, sowie Viktor Subkow, einst Chef des Petersburger Finanzamts, der Regierung vor. Sie galten als kompetente Bürokraten, aber ohne jeden Ehrgeiz auf eine eigene Politik.
Auch Mischustin wird als Premier ohne große Ambitionen oder Perspektiven gehandelt, eine neutrale Figur, die Putin vor allem aus taktischen Gründen im Kabinett installiert hat. „Dmitri Medwedew war Vorsitzender der Staatspartei ,Einiges Russland‘, sein Antirating als Premierminister drückte auf die Popularität der Partei“, sagt der Politologe Michail Winogradow der „Schwäbischen Zeitung“. „Mischustin aber ist parteilos, er wird bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr die Chancen von ,Einiges Russland‘ kaum beeinträchtigen.“Das politische Leichtgewicht werde Putin auch nicht beim geplanten Umbau der Gewaltenteilung in die Quere kommen.
Mischustin ist verheiratet und hat drei Kinder. Und zumindest in einem Punkt steht er Wladimir Putin näher als sein Vorgänger Medwedew: Wie der Staatschef spielt Mischustin gerne Eishockey. Stefan Scholl