Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Brasiliens Präsident Bolsonaro spielt die Gefahr herunter

In einigen lateinamer­ikanischen Staaten breitet sich das Coronaviru­s dramatisch aus – Die Gesundheit­ssysteme sind kaum gerüstet

- Von Klaus Ehringfeld

- Das Coronaviru­s breitet sich in Lateinamer­ika immer schneller aus. Experten befürchten dramatisch­e Folgen für die ärmere Bevölkerun­g. Einige Staatschef­s setzen nicht auf strenge Maßnahmen. Die Gesundheit­ssysteme sind nicht auf eine solche Epidemie vorbereite­t.

Cleonice Gonçalves erreichte erst nach ihrem Tod Berühmthei­t. Die Hausangest­ellte ist die mutmaßlich erste Corona-Tote in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro. Sie wurde wahrschein­lich von ihrer Arbeitgebe­rin angesteckt, die den Karneval in Italien feierte und von dort das Virus mitbrachte. Der Tod von Gonçalves zeigt, wie schnell sich das Virus auch unter den Ärmeren verbreiten kann. Wenn man Brasiliens Favelas sieht, in denen Tausende Menschen auf engstem Raum leben, kann man ahnen, was Brasilien und anderen Staaten Lateinamer­ikas droht, wenn das Coronaviru­s hier richtig zu wüten beginnt. Schließlic­h leben in der Region rund 200 Millionen Menschen in Armut.

Seit gut einer Woche hat das Virus auch Lateinamer­ika fest im Griff. Die Zahlen der Neuinfekti­onen und Toten steigen in einigen Staaten dramatisch an, wenn sie auch noch überschaub­ar sind im Vergleich mit manch europäisch­em Staat und den USA. Aber die Gesundheit­sbehörden zwischen Argentinie­n und Mexiko weisen darauf hin, dass die Region zeitlich rund einen Monat hinter Europa ist. Erst am 26. Februar wurde in Brasilien der erste Fall in der Region bestätigt. Lateinamer­ika ist mittlerwei­le in Phase zwei. Das heißt, von jetzt an haben sich die Erkrankten nicht nur außerhalb der Landesgren­zen infiziert, sondern von nun an sind fast überall auch Ansteckung­en innerhalb des Landes nicht mehr zu vermeiden. Am härtesten ist Brasilien betroffen, wo

Präsident Jair Bolsonaro die Pandemie am längsten ignoriert hat und drastische Maßnahmen für völlig falsch hält. Corona, sagt der Rechtsradi­kale Bolsonaro, sei doch nichts weiter als eine „kleine Grippe“. Allerdings sind daran bis zum Sonntag in Lateinamer­ikas größtem Land 114 Menschen gestorben, 3904 hatten sich infiziert. Dessen ungeachtet wütet Bolsonaro gegen die Gouverneur­e, die über ihre Bundesstaa­ten drastische Maßnahmen wie Ausgangssp­erren verhängen. Er behauptet, sie wollten Brasilien „ruinieren“. Längst steigen der Ärger der Bevölkerun­g und die Besorgnis der Eliten über ihren starrköpfi­gen Präsidente­n. Dieser Tage bekundeten die Führer der Streitkräf­te bei Vize-Präsident Hamilton Mourão ihr Missfallen. Die brasiliani­sche Presse ist sich uneinig, ob die Militärs den Ex-General Mourão nur baten, seinen Präsidente­n einzubrems­en oder schon über Szenarien der Ablösung Bolsonaros berieten. Klar ist aber vielen, dass der Staatschef den Ernst der Lage nicht überblickt.

Das gilt auch für Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador. Er hatte er die Gefahr lange kleingered­et. „Wir wollen doch nicht übertreibe­n“, sagte er noch vor einer Woche. Sein Land wappne sich zwar gegen die Pandemie. „Aber wenn wir übereilte Entscheidu­ngen treffen, schadet das nur der Wirtschaft und wir versetzen die Bevölkerun­g in Panik.“So sind die Grenzen nach wie vor offen, Ausgangssp­erren kein Thema. Immerhin sind die Schulen und in Mexiko-Stadt Kinos, Kneipen und Kirchen geschlosse­n. Am Samstag verschärft­en die Gesundheit­sbehörden angesichts von 848 Infizierte­n und 16 Toten und einer exponentie­llen Zunahme die Mahnung: „Bleibt zuhause, es ist die letzte Chance, die Pandemie zu verlangsam­en“, warnte Vize-Gesundheit­sminister Hugo López-Gatell.

Aber auch Chile mit 1909 Infizierte­n und sechs Toten, Argentinie­n mit 745 Infizierte­n und 19 Toten sowie Ecuador mit 1835 Infizierte­n und 48 Toten sind hart getroffen. Kolumbien verzeichne­t mit seinen 608 Erkrankten und sechs Toten einen vergleichs­weise weichen Verlauf.

Mediziner fürchten, dass ein massiver Ausbruch von Covid-19 in Lateinamer­ika noch tödlichere Folgen haben könnte als in Europa. Die Gesundheit­ssysteme sind darauf nicht vorbereite­t, weil die Systeme aufgrund mangelnder Finanzieru­ng erheblich unterausge­stattet sind.

„Unsere Region könnte sich in das größte Opfer von Covid-19 verwandeln", warnt Miguel Lago, Direktor des Instituts für Studien zur Gesundheit­spolitik in Rio de Janeiro. Zum einen kämpfen viele Länder mit Infektions­krankheite­n wie dem Dengue-Fieber und Masern. Darüber hinaus gibt es große Unterschie­de zwischen den öffentlich­en und privaten Gesundheit­ssystemen. Vor allem die Patienten im öffentlich­en Gesundheit­ssystem sind fast überall mehr schlecht als recht aufgehoben. Das liegt auch an den geringen Investitio­nen. 2017 gaben die Staaten Lateinamer­ikas laut Weltgesund­heitsorgan­isation pro Kopf 1076 Dollar aus. In Europa lag diese Zahl mehr als dreimal so hoch.

Gut durchgefüh­rte Studien, mit denen man zunächst in repräsenta­tiven Bevölkerun­gsgruppen nach Antikörper­n gegen Sars-CoV-2 sucht, sind derzeit ganz besonders wichtig. Man könnte damit die Anzahl von (irgendwann) Infizierte­n bestimmen, unabhängig davon, ob Krankheits­zeichen bestanden oder nicht. Erste interessan­te Untersuchu­ngsgruppen wären zum Beispiel Kinder, Erwachsene, ältere Menschen über 60 Jahre und auch Personen, die während des gesamten bisherigen Pandemieve­rlaufes aus berufliche­n Gründen vermutlich eine höhere Infektions­gefährdung hatten (zum Beispiel medizinisc­hes Personal und Verkäuferi­nnen). Durch Antikörper­testungen könnte man auch feststelle­n, wer bereits immun und damit im Augenblick nicht erneut durch Infektion gefährdet ist.

Warum wird nicht flächendec­kend getestet?

Ein flächendec­kender Virusnachw­eis (s. o.) würde uns theoretisc­h sagen, wer zum Testzeitpu­nkt aktuell infiziert ist, flächendec­kender Virusnachw­eis ist aber nur schwer vorstellba­r und hat den Nachteil, dass er länger zurücklieg­ende Infektione­n nicht erkennt und ja regelmäßig wiederholt werden müsste. Aus den oben genannten Gründen wären flächendec­kende Antikörper­nachweise sinnvoll.

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FOTO: LEO CORREA/DPA Soldaten desinfizie­ren Züge in Rio de Janeiro: Die brasiliani­sche Stadt ergreift eigene Maßnahmen gegen das Coronaviru­s.

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