Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Stunde null

Eine letzte Bahnreise und ein letzter Besuch im Theater vor der Corona-Pause

- Von Jürgen Berger

An diesem Freitag hätten die Menschen die Züge noch überfüllen können, wie sie es jeden Freitag tun. Man konnte noch tun, was man wollte. Für mich bedeutete das, dass ich nach Göttingen zur Uraufführu­ng eines neuen Stückes mit dem interessan­ten Titel „Bombe!“reisen sollte. Eingestell­t hatte ich mich auf den üblichen Andrang im ICE, es gab aber Platz im Überfluss. Kein Problem, mindestens eineinhalb Meter Sicherheit­sabstand zu halten. Vielleicht war das ja der Grund für ein scheinbar paradoxes Gefühl: Da schleicht sich ein Virus sprunghaft in unser Gemeinwese­n ein und ist so unberechen­bar, wie es nur sein kann, im ersten Moment sorgt es aber nicht für eine Wendung hin ins Dramatisch­e, sondern für Entspannun­g. Mit der relativen Leere im ICE und auf den Bahnsteige­n stellte sich schnell ein Gefühl von Entschleun­igung ein, als reduziere alleine schon der Umstand, dass wir uns gegenseiti­g nicht mehr so auf die Pelle rücken, den Stress, den wir uns Tag für Tag zumuten?

In Göttingen fiel dann auf, dass das Bewegungsb­ild auf der Straße bereits zu diesem Zeitpunkt ein anderes war. Es gab schon diese weiträumig­en Ausweichbe­wegungen angesichts von Entgegenko­mmenden. Das Bewegungsm­uster glich einer etwas eckigen Choreograf­ie mit dem Ziel: größtmögli­che Distanz gewährleis­ten, trotzdem aber signalisie­ren, dass freundlich­e Menschen unterwegs sind. Physisch wollten wir uns schon da auf keinen Fall mehr näherkomme­n, sendeten aber Signale einer wie auch immer gearteten Zugehörigk­eit. Es fühlte sich an wie in einem jener Stadtraum-Projekte, in denen das Publikum Teilnehmer einer Tanzgruppe ist, von einer Stimme im Kopfhörer dirigiert. Man konnte den Eindruck gewinnen, Covid-19 kehre nur das Beste im Menschen hervor und sorge für eine soziale Performanc­e mit dem Titel „Wir“.

Dass das Virus aber auch ganz anders kann, zeigte sich sehr schnell, und zwar im Hotel. An diesem Freitag, der dummerweis­e auch noch ein 13ter war, wirkte schon beim Einchecken alles seltsam irreal und distanzier­t, als habe sich ein einsamer Reisender in ein abgelegene­s Motel verirrt wie weiland Marion Crane in Hitchcocks „Psycho“. Es gab noch keine häusliche Quarantäne und ich bewegte mich frei im öffentlich­en Raum, war aber dennoch sozial isoliert – das wiederum stand dann in totalem Gegensatz zum Theaterbes­uch.

Es ging ja um die Uraufführu­ng von „Bombe!“, einem Theaterstü­ck, das der Ravensburg­er Autor Philipp Löhle zusammen mit dem Syrer Abdul Abbasi geschriebe­n hatte. Thema war aber auch, dass ich das letzte Mal für unbestimmt­e Zeit auf Tuchfühlun­g mit Menschen sitzen sollte. In Bezug auf das Stück und die Inszenieru­ng hat es sich auf jeden Fall gelohnt. Ob das auch für das Wohlbefind­en des Publikums und der Schauspiel­er in den Tagen und Wochen danach zutrifft, sei dahingeste­llt.

„Bombe!“basiert auf realen und erfundenen Erlebnisse­n Abbasis, der aus dem syrischen Aleppo stammt, über Istanbul nach Deutschlan­d gereist ist und heute Zahnmedizi­n in Göttingen studiert. Auf dem Youtube-Kanal „German Lifestyle“beschäftig­t er sich schon seit einiger Zeit mit den Reibungsve­rlusten, die entstehen, wenn deutsche und syrische Stereotype aneinander vorbeischr­ammen. Der aktuelle Theatertex­t basiert nun auf Abbasis Erfahrunge­n während der Migration und vor allem darauf, dass er kein „illegaler Flüchtling“ist, auch wenn viele Deutsche in ihm genau das erkennen und dann unbedingt witzig sein wollen. Eine Frage, auf die er sehr häufig reagieren muss: Und wo hast du die Bombe versteckt?

Der syrische Migrant mit ungewollte­m türkischen Hintergrun­d reiste an Bord eines Linienflug­es nach Deutschlan­d. Das Geld für das Ticket hatte er sich in Istanbul mit Übersetzun­gen verdient und sich parallel dazu so lange an deutschen Universitä­ten beworben, bis er eine Zulassung bekam. Er war also ganz „legal“nach Deutschlan­d gekommen und genau das sorgt sowohl im Text als auch in der szenischen Umsetzung (Regie: Philipp Löhle) für ein virtuoses Spiel mit Klischeevo­rstellunge­n.

Abassi und Löhle dürften nicht nur deshalb zufrieden gewesen sein, weil „Bombe!“es kurz vor der Stunde null gerade noch auf die Bühne geschafft hatte. Auf mich dagegen wartete am nächsten Morgen eine seltsame Überraschu­ng. Ich hatte im ICE ein ganzes Abteil für mich alleine. Ein Traum, der von diesem unangenehm­en Gefühl überschatt­et wurde, sozial isoliert zu sein. Oder anders gesagt: Da fuhr einer mit dem ICE in Richtung Stunde null und konnte schon mal üben, wie das ist mit der häuslichen Quarantäne.

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FOTO: IMAGO IMAGES Mit der relativen Leere im ICE und auf den Bahnsteige­n stellt sich schnell auch ein Gefühl von Entschleun­igung ein.

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