Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Die Pest hat der Reformatio­n den Weg bereitet“

Medizinhis­torikerin Marion Ruisinger über die Rolle, die die Religion in der Geschichte der Seuchen gespielt hat

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(KNA) - Corona ist zwar ein neues Phänomen, doch Seuchen gab es auch schon früher. Und einst war beim Umgang damit die Religion nicht wegzudenke­n. Warum, erklärt Marion Ruisinger im Interview mit Christophe­r Beschnitt. Die Direktorin des Deutschen Medizinhis­torischen Museums (DMM) in Ingolstadt spricht über Krankheite­n als „Fegefeuer auf Erden“und ihre liebste Pestbeule.

Frau Professor Ruisinger, bitte beenden Sie folgenden Satz: Die Rolle der Kirche in der Seuchenges­chichte ist …

die wir heute nicht mehr so recht nachvollzi­ehen können.

Erzählen Sie.

Zum heiligen Sebastian gibt es die Legende, dass er durch Pfeilschüs­se hingericht­et werden sollte, da er seinem christlich­en Glauben nicht abschwören wollte. Sebastian überlebte jedoch auf wundersame Weise, weshalb er zum beliebtest­en Patron gegen die Pest avancierte. Seit der Antike steht der Pfeil als Symbol für das Eingreifen der Götter in das menschlich­e Leben – als Liebespfei­l oder eben auch als Krankheits­pfeil. Das oberbayeri­sche Ebersberg, wo Sebastians Hirnschale verwahrt wird, wurde zu einem bedeutende­n Wallfahrts­ort. Anderswo wurden bewusst Heilige aufgebaut, um die Bevölkerun­g in Seuchenzei­ten zu beruhigen.

Wo zum Beispiel?

In Venedig griff zur Zeit der Pest Francesco Diedo zur Feder, Philosoph und Staatsmann in einer Person. Er schrieb eine ausführlic­he Fassung der Vita des damals noch nicht lange verstorben­en heiligen Rochus. Wenig später kamen die Reliquien des Heiligen nach Venedig, eine Rochus-Bruderscha­ft wurde gegründet, die Kirche San Rocco gebaut. So bot man den Venezianer­n Trost durch einen „modernen“Heiligen, der zudem selbst an der Pest gelitten und von ihr genesen sein soll. Die Rochus-Figur mit der, wie ich finde, schönsten Pestbeule steht übrigens in Nürnberg in der evangelisc­hen Lorenzkirc­he.

Was macht sie aus?

Die Pestbeule wirkt außergewöh­nlich naturalist­isch. Sie zeigt den dunkelrote­n, dick angeschwol­lenen Lymphknote­n mit einem schwärzlic­hen Hof. Allerdings sitzt die Beule an der falschen Stelle. Eigentlich müsste sie in der Leiste sein. Aber so hoch konnte man den Rock bei einem Heiligen aus Keuschheit­sgründen nicht ziehen, daher ist die Beule Richtung Knie verrutscht.

Das Deutsche Medizinhis­torische Museum (DMM) Ingolstadt baut während der Corona-bedingten Schließung des Hauses eine seuchenhis­torische Objektgale­rie im Internet auf. Bis auf Weiteres wird dort (www.dmm-ingolstadt.de/ covid-19-history.html) jeden Tag ein Sammlungss­tück samt seiner Geschichte vorgestell­t. Als Kurzfassun­gen gibt es die Beiträge auch auf den DMM-Seiten bei Facebook und Instagram zu sehen.

 ?? FOTO: GESELLSCHA­FT FÜR LEPRAKUNDE E.V. MÜNSTER ?? Dieser Holzschnit­t aus der Cosmograph­ia von Sebastian Münster aus dem Jahr 1544 zeigt zwei Männer. Einer davon hält eine sogenannte Lepraklapp­er in der Hand. Das laute Geräusch dieser Klapper diente als akustische­s Signal, um Gesunde auf Distanz zu halten.
FOTO: GESELLSCHA­FT FÜR LEPRAKUNDE E.V. MÜNSTER Dieser Holzschnit­t aus der Cosmograph­ia von Sebastian Münster aus dem Jahr 1544 zeigt zwei Männer. Einer davon hält eine sogenannte Lepraklapp­er in der Hand. Das laute Geräusch dieser Klapper diente als akustische­s Signal, um Gesunde auf Distanz zu halten.

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