Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die Flucht in den Rausch
Süchtigen setzt die Isolation besonders zu – Die Suchtberatungsstelle setzt auf Gespräche
(mke) - Wer süchtig ist, hat die Kontrolle über einen Teil seines Lebens verloren. Diese Kontrolle müssen die Menschen zurückerlangen, wenn sie ihre Sucht besiegen wollen. Wie gehen sie damit um, wenn durch eine Krise wie die Corona-Pandemie noch mehr Chaos um sie herum ausbricht? „Wir beraten unsere Klienten öfter, und zwar am Telefon“, sagt Sebastian Schneider, Leiter der Suchtberatungsstelle in Sigmaringen. Denn eines, betont er, sei besonders wichtig: Es geht um Struktur im Alltag.
Damit meint Schneider Freizeitbeschäftigungen, soziale Kontakte und natürlich den Job, aber: „Vieles davon fällt jetzt weg und das ist eine Herausforderung.“In der Beratung gehe es momentan also vor allem darum, diese Strukturen aufzugreifen, mit dem Telefonat selbst eine Konstante zu bieten und über ungute Gefühle zu sprechen. Denn eines steht laut Schneider fest: „Rückfälle gibt es immer, aber die Flucht in den Konsum ist momentan wahrscheinlicher als sonst.“Und Suchtendenzen wiederum könnten sich momentan etablieren.
Deshalb findet er wichtig, dass die Betroffenen weiterhin Kontakt mit der Suchtberatungsstelle halten. „Dadurch können wir mehr Beziehung
anbieten und mit ihnen darüber sprechen, wie sie wieder Strukturen aufbauen oder bisherige Strukturen ersetzen“, sagt Schneider. Wichtig sei es, dass sie „auf keinen Fall nach der Lust“handeln, sondern vorgegebene Abläufe haben. Es gehe also darum, dass die Klienten lernen, etwas zu tun, weil es ihnen gut tut, auch wenn sie die Aktivität gerade nicht machen möchten. Was das ist, müsse aber von den Klienten kommen – Vorschläge machen die Suchtberater keine.
Für Methoden wiederum, die den Betroffenen helfen, sprechen die Berater Empfehlungen aus. Klar ist:
Wer mitten in der Sucht steckt, müsse auch in Corona-Zeiten in den Entzug und in die Therapie. Wer das schon hinter sich hat, könne Selbsthilfegruppen momentan durch Foren im Internet ersetzen oder Gespräche mit den Gruppenteilnehmern am Telefon anleiern. Bei Freizeitaktivitäten sei das ganz individuell, allerdings rät die Beratungsstelle zu Kontakt mit anderen, wenn auch nicht persönlich – wie mit den Beratern.
Das wiederum sei für die meisten ungewohnt, denn normalerweise sitzen sich Klient und Berater gegenüber. Manche sind laut Schneider
am Telefon oder per Videochat offener, weil sie der Augenkontakt und die Mimik hemme, andere müssten erst einmal auftauen. Aber grundsätzlich, so sein Fazit, funktioniere es gut. „Ich habe nicht festgestellt, dass uns ein Klient entgleitet“, sagt Schneider.
Neue Klienten melden sich bisher kaum, obwohl noch Kapazität da wäre. Zehn Berater arbeiten in der Suchtberatungsstelle, sie haben insgesamt mit etwa 150 Klienten im ganzen Kreis Sigmaringen zu tun – angefangen bei der Alkoholsucht, die im Kreis Sigmaringen laut Schneider am häufigsten vorkommt, aber auch Drogen-, Spielund Mediensucht gehören zu den Problemen, die die Beratungsstelle bespricht. „Wichtig ist zu verstehen, dass man seine Bedürfnisse ausdrücken kann und eine Flucht in die Sucht nicht möglich ist“, betont Schneider. Und genau an dem Punkt setzt die Beratungsstelle an.
Wer Hilfe braucht und selbst mit einer Sucht zu kämpfen hat, kann sich an die Suchtberatungsstelle wenden unter Telefon 07571/4188 oder per E-Mail an suchtberatungsigmaringen@agj-freiburg.de.