Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Im Stich gelassen
Das Bad Buchauer Unternehmen Kessler entlässt 162 Mitarbeiter
Betriebsrat des Unternehmens stand gestern nicht für einen Kommentar zur Verfügung.
In einer Stellungnahme teilte die Geschäftsführung mit, dass sie mit dem Betriebsrat einen Sozialplan und Interessenausgleich abgeschlossen hat. „Wir können die Enttäuschung der Mitarbeiter nachvollziehen. Niemand möchte seinen Arbeitsplatz verlieren. Wir bedauern dies, jedoch sind diese Maßnahmen notwendig, um die Zukunft von Kessler zu sichern“, wird Geschäftsführer Jochen Glück in der Stellungnahme zitiert. Der SZ sagt Geschäftsführer Julius Herwanger: „Das Schicksal der Menschen, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren, geht mir nah. Kessler ist sich seiner Verantwortung bewusst und hat daher entschieden, die betroffenen Mitarbeiter in Form einer Transfergesellschaft finanziell zu unterstützen.“
Die 162 entlassenen Kessler-Mitarbeiter bekommen nun die Möglichkeit, in diese Transfergesellschaft zu wechseln. Dort erhalten sie einen Arbeitsvertrag für mindestens sechs Monate, 80 Prozent ihres vorherigen Lohns sowie Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Zusätzlich bietet Kessler den Gekündigten eine
Abfindung an, die der Dauer der jeweiligen Betriebszugehörigkeit angepasst ist.
Entlassene Mitarbeiter des Unternehmens berichten, Kesslers Kündigung habe sie erstaunt. Das Unternehmen hat zwar jüngst darauf hingewiesen, dass Entlassungen nicht auszuschließen seien. Auch eine geplante Betriebsversammlung habe wegen der Corona-Krise nicht stattfinden können. Trotzdem fühlt sich eine entlassene Mitarbeiterin, die ihren Namen nicht nennen möchte, im Stich gelassen: „Einer der Geschäftsführer hat mich persönlich angerufen und die Kündigung ausgesprochen. Aber vorab hatte es keine Gespräche oder Informationen über einen konkreten Arbeitsplatzabbau gegeben.“
Ein langjähriger Kessler-Mitarbeiter, der ebenfalls anonym bleiben möchte, sagt: „Ich habe damit gerechnet, dass Entlassungen kommen – aber nicht, dass ich selbst dabei bin.“Wie viele seiner Kollegen befinde er sich schon seit geraumer Zeit in Kurzarbeit. Von der Kündigung erfuhr er über seinen Vorgesetzten, der ihn telefonisch darauf vorbereitete. Die Bestätigung, ein offizielles Kündigungsschreiben der
Firma, fand er einen Tag darauf im Briefkasten vor. Ohne Briefmarke, wie ihm auffiel. Die Postsendung war also persönlich eingeworfen worden; die Firma habe wohl sichergehen wollen, dass ihn die schriftliche Kündigung erreicht.
Dem Vernehmen nach hätten Kessler-Mitarbeiter Kündigungsschreiben in Briefkästen ihrer Kollegen geworfen. Anschließend hätten sie die Briefkästen mit dem Mobiltelefon fotografiert – als Beweis, dass die Dokumente auch tatsächlich beim Betroffenen eingetroffen sind.
In dem Brief zeigt die Firma Kessler dem langjährigen Mitarbeiter zwei Optionen auf: Ihm stehe entweder eine Abfindung zu, dann verlasse er den Betrieb zum Ende der regulären Kündigungsfrist. Der Mitarbeiter könne aber auch in die Transfergesellschaft eintreten. In diesem Zeitraum erhalte er 80 Prozent seines letzten Bruttolohns und die Möglichkeit, „wohnortnah“– was immer das bedeutet – an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Finde er innerhalb eines Jahres keine neue Arbeit, könne er sich schließlich arbeitslos melden. Welche Möglichkeit für ihn in Frage komme, wisse er noch nicht, so der Mitarbeiter. Er wolle zunächst das Informationsgespräch der Transfergesellschaft abwarten. Außerdem habe er sich, wie andere Kollegen auch, an einen Anwalt gewandt. Denn warum sich gerade er unter den gekündigten Mitarbeitern befinde, sei für ihn nicht nachvollziehbar: „Die Auswahlkriterien verstehe ich nicht.“In einem Sozialplan werden doch normalerweise das Alter und die im Betrieb geleisteten Arbeitsjahre berücksichtigt. Fast komme es ihm so vor, als hätte man einfach die Namen der Mitarbeiter aus einer Lostrommel gezogen. Ob er nun im fortgeschrittenen Alter noch einen neuen Job findet? „Klar mache ich mir jetzt Gedanken: Wie geht’s weiter?“
Eine andere gekündigte Mitarbeiterin berichtet, sie habe den Eindruck, soziale Kriterien, wie Dauer der Betriebszugehörigkeit oder Unterhaltspflichten, spielten bei den Kündigungen keine Rolle. Offenbar will Kessler eher Leute mit der richtigen Qualifikation im Unternehmen halten. Die Kurzarbeit und die Corona-Pandemie machten die Lage unübersichtlich bei Kessler. „Ich habe das Gefühl, Betriebsrat und Geschäftsführung wollen sich hinter dem Coronavirus verstecken.“