Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Abgsagt is
Eine der beliebtesten Hauptattraktionen des Oktoberfests 2019 war der „Skyfall“. Der Skyfall stand gleich neben der Schießbude „Goldener Western“und gegenüber vom Café Mohrenkopf, das zwar einen politisch nicht ganz korrekten Namen trug, aber politisch korrekt ging es auf der Wiesn ja noch nie zu.
Pro Fahrt wurden im Skyfall 24 Fahrgäste festgegurtet in Sitzen auf einer Plattform 75 Meter in die Höhe gezogen. Dann klinkte sich der Passagierschlitten aus und raste in die Tiefe, bevor kurz vor dem Erdboden Magnetbremsen den rasanten Absturz stoppten und jedesmal für ein sanftes Ende des adrenalingeladenen Nervenkitzels sorgten. Auf dem Geländeplan des Oktoberfests rangierte der Skyfall unter der Rubrik „Gaudi“.
An diesem Dienstag gab es keine Magnetbremsen und es war vorbei mit der Gaudi, viele Münchner erlebten einen freien Fall, der gefühlt mit einer schmerzhaften Bruchlandung endete, als zeitgleicher Auftakt für eine Geisterbahnfahrt in Endlosschleife.
Am Dienstag verkündeten Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Münchens OB Dieter Reiter (SPD) das, was sich schon lange abgezeichnet hatte, was viele aber nicht wahrhaben wollten: die Absage des Oktoberfests 2020. Das Ansteckungsrisiko in Corona-Zeiten sei auch dann sicher noch zu hoch, sagte Söder, und auch wenn es wehtue: „Entweder gscheid oder gar ned.“Und deswegen eben gar ned.
Eher hätte man sich ein Jahr ohne Weihnachten vorstellen können, dass man Ostern streicht oder der FC Bayern nicht Meister wird. Aber ein Jahr ohne Oktoberfest? Welch annus horribilis.
Dass die Party nun gestrichen wird, ist sicher allein schon aus zwei Gründen nicht lustig. Zum einen wegen der schmerzhaften wirtschaftlichen Auswirkungen. Zum anderen, weil es jedem noch mal die historische Ausnahmedimension des Jahres MMXX A. D. verdeutlicht, denn wenn die Wiesn in ihrer 210jährigen Geschichte ersatzlos ausfiel, dann war immer etwas Schlimmes passiert (siehe Kasten). Und nun wütet eben Covid-19 über die Welt.
Aber mal anders gesehen, und, auch wenn es im Zusammenhang mit diesem 16-tägigen Kollektivexzess schwerfällt, ganz nüchtern betrachtet: Mal keine Wiesn – ist das wirklich so ein Drama? Auch in München scheiden sich hier die Geister.
Neben den Münchnern, die nun ihren Frust mit den letzten verbliebenen, das Mindesthaltbarkeitsdatum jüngst überschrittenen Flaschen Oktoberfestbier vom Vorjahr runterspülen, gibt es unter den Eingeborenen der Landeshauptstadt auch eine große Fraktion, die diesem Massenspektakel wenig bis überhaupt nichts mehr abgewinnen kann. Für all diejenigen, die nicht mitreden können, weil sie sich in diesen zwei Wochen noch nie in dieses völlig irre Treiben gestürzt haben: Die Wiesn ist nur nachrangig als weltgrößtes Volksfest mit soundsovielen Bierzelten, Fahrgeschäften und Quadratmetern zu definieren, stattdessen vielmehr als ein subjektiv variabel interpretierbarer Zustand zu begreifen, als eine für jeden Besucher individuell unterschiedlich empfundene Erfahrung, meist ist es eine Grenzerfahrung.
Den besonderen Eigenheiten dieses Festes widmeten sich ja schon viele große Denker, Künstler, Literaten. Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy staunte 1831 über die „weite, grüne Theresienwiese, wo es von Menschen wimmelt, man kommt vor Abend nicht fort“. Distanzierter waren schon Thomas Manns Zeilen, als er von der „wochenlangen Monster-Kirmes“schrieb, von einer „trotzigfidelen Volkhaftigkeit, korrumpiert ja doch längst von modernem Massenbetrieb“. Am drastischsten aber formulierte es Schriftsteller Thomas Wolfe, der jedes Jahr aus den USA extra für die Wiesn anreiste. 1928, ein Jahr nachdem er in einer zünftigen Bierzelt-Schlägerei einen Maßkrug über den Schädel gezogen bekam und sich dennoch dem Sog des Oktoberfests wieder nicht entziehen konnte, schrieb er in einem Brief: „Sie essen, trinken und atmen sich in einen Zustand tierischen Stumpfsinns hinein. Das ganze Lokal wird zu einer heulenden, brüllenden Bestie, und wenn die Musik eins von den Trinkliedern spielt, stehen sie an allen Tischen auf, steigen auf die Stühle und schaukeln mit untergehakten Armen hin und her.“An all dem hat sich bis heute nichts geändert.
Was sich geändert hat? Natürlich vor allem das eigene Empfinden, fünf Jahrzehnte Wiesn-Erfahrung, eine wechselhafte und sehr komplexe Beziehung. In den Siebzigerjahren war man als kleiner Bub mit den Eltern einmal die Woche draußen, immer freitags, spätnachmittags, im menschenleeren Biergarten vom Hofbräuzelt bei einem halben Hendl, einer großen Brezn und einer Maß Bier, von der man auch mal zuzeln durfte, danach stand eine Fahrt in der Achterbahn an. Manchmal gab es vor der Heimfahrt am Ausgang noch einen Luftballon und wenn man selbigen auch nach Hause brachte, ohne dass man ihn durch tränengetrübte Augen verschwommen in den Himmel über München entschweben sah, waren es immer unbeschwerte und glückliche Kindertage.
In den Achtzigern war es nicht mehr so lustig, als man als Teenager von einem kräftigen Nebenmann auf der Bierbank bewusstlos geprügelt wurde, man hatte ihn höflich gefragt, ob er vielleicht etwas rücken könnte, der Platz sei doch so beengt. Die Neunziger, als junger Zeitungsvolontär, Wiesn-Reporter, als schon dieser kollektiv fragwürdige Trachtenwahnzwang einsetzte, bei dem jeder, der sich nicht in ein noch so billiges Lederhosen- oder (wahlweise weiblich) Dirndl-Imitat zwängte, schräg angeschaut wurde und heute noch wird. Im neuen Jahrtausend die ersten Ausflüge mit den Kindern, jedes Jahr am ersten Dienstag zum Familiennachmittag, Fahrgeschäfte zum halben Preis. Dazu später die regelmäßigen Abstecher auf die „Oide Wiesn“, seit Jahren ein Exklaven-Biotop als Stück des alten München. Für die, die den Trubel auf der richtigen Wiesn nicht mehr aushalten.
Aber da sind eben auch die Münchner, die das auch genießen können, die das auch brauchen. Den Wahnsinn. Den Lärm. Den Rausch. Den Exzess. Es gibt Menschen in der Stadt, die nehmen extra zwei Wochen Urlaub, um jeden Tag auf die Wiesn gehen zu können, 16 Mal. Es gibt auch Menschen, denen es nichts ausmacht, Security-Beamten 20 Euro in die Hand zu drücken, um die Warteschlange am Haupteingang zu vermeiden und über eine Seitentür heimlich ins Zelt geschleust zu werden. Andererseits: Bei den Beträgen auf der Wiesn kommt es auf den Zwanziger auch nicht mehr an. Auszüge der Preisliste 2019: Eine Maß Bier 11,80 Euro. Ein Liter Spezi 10 Euro. Ein halbes Hendl mit Kartoffelsalat 18,90 Euro. Die Tische auf dem Oktoberfest können gar nicht so groß sein, als dass man von den Wiesn-Wirten nicht über sie gezogen werden könnte.
Man selbst traf sich letztes Jahr mit einem lieben alten Kollegen mittags in einem kleineren Bierzelt und bestellte sich ob des überschaubaren Hungers einen Semmelknödel. Als der Knödel kam, lag er als nackte Kugel auf einem leeren Teller, auf Nachfrage, ob man etwas Soße dazu haben könne, antwortete der Kellner, das koste vier Euro extra, für einen Schöpflöffel von geschätzten 100 Milliliter. Weil man das hochrechnete auf einen Preis von 40 Euro für die Maß Bratensoße, bestellte man sich stattdessen noch einen Liter Bier zum trockenen Knödel, das kam gefühlt günstiger, ha, mal wieder ein Schnäppchen gemacht.
Ja, es ist durchaus zu verkraften, dass die Wiesn heuer ausfällt. Und doch, es wird einiges fehlen, es wird viel fehlen. Das Schlendern durch die Schaustellerstraße mit dem kakofonisch dröhnenden Surroundsound der glitzernd blinkenden Fahrgeschäfte. Das Bestaunen der neuen Attraktionen. Die obligatorische Fahrt mit dem großen Riesenrad und dem wundervollen Blick auf die vertraute Heimatstadt ringsherum und die Berge im Süden. Der Geruch von gebrannten Mandeln. Luftballons, die in den Himmel steigen. Erinnerungen an früher.
Nein, Oktoberfest-Chef Clemens Baumgärtner hatte gestern natürlich nicht recht, als er die Wiesn als ein Fest bezeichnete, das symbolisch für Münchner Lebensfreude steht. Münchner Lebensfreude findet man in kleinen Biergärten, im Englischen Garten, an lauen Sommerabenden an der Isar, aber nicht auf der Wiesn. Die Wiesn verkörpert keine uneingeschränkte Lebensfreude, vielmehr ein Lebensgefühl, dem man auch kritisch differenziert gegenüberstehen kann und nach fünf Jahrzehnten auch mitunter entfremdet. Ein Gefühl, auf das man schizophrenerweise aber nicht verzichten möchte, nun aber gezwungenermaßen muss. Schad.
Dann aber eben 2021 wieder. Dann fährt der Skyfall wieder, dann geht die Gaudi weiter. Dann kostet der Löffel Bratensoße vier fünfzig.