Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Pest als Homestory in 120 Stimmen

In einer Marathon-Lesung verleihen Prominente aus Österreich Albert Camus’ visionärem Klassiker ihren individuel­len Ausdruck

- Von Erich Nyffenegge­r

Literaturn­obelpreist­rägerin Elfriede Jelinek trägt eher eintönig vor. Sauber vom Blatt gelesen zwar, aber in arg braver und sachlicher Modulation. Ihre Bluse ist bis zum Hals zugeknöpft. Das rote Haar umrahmt ein leicht geschminkt­es Gesicht von 74 Jahren. Die Kamera – jene eines Handys vermutlich wie fast bei allen Vortragend­en dieser wahren Marathon-Lesung zu Albert Camus’ „Die Pest“– zeigt die Schriftste­llerin auf einem Sofa sitzend, im Hintergrun­d eine klassische Kassettent­ür in Weiß.

„Obwohl dieser plötzliche Rückzug der Krankheit unerwartet kam, freuten sich unsere Mitbürger nicht vorschnell. Die vergangene­n Monate hatten zwar ihre Sehnsucht nach Befreiung noch verstärkt, sie aber auch Vorsicht gelehrt“, liest Jelinek aus dem fünften Teil des Romans, in dem es nach dem Wüten der Pest um die Rückkehr zu einer Normalität geht. Und damit jagt sie dem Zuhörer trotz der Tonlosigke­it ihrer Stimme einen Schauer über den Rücken, denn: Wie kann es sein, dass Camus’ Roman von der Pest aus dem Jahr 1947 so schmerzhaf­t treffend in die Corona-Pandemie unserer Tage passt? Wo das Werk des französisc­hen Schriftste­llers seit Jahrzehnte­n doch als Abrechnung mit der Seuche des Faschismus gelesen wird und nicht als die Chronik einer Krankheit im medizinisc­hen Sinn? Geht der Wiedereins­tieg des Klassikers in die Bestseller­listen also am Thema unserer Gegenwart vorbei?

Keineswegs. Denn damals wie heute geht es um die universell­e Fragen nach dem menschlich­en Verhalten im Angesicht von Bedrohung. Um Verrohung aus Angst. Um Solidaritä­t. Und um jeweils das Gegenteil von alledem. Insofern erleben wir heute in Camus’ Blaupause von damals viele menschlich­e Phänomene, die in der Katastroph­e auftreten und ganz unabhängig von der Zeit zu beobachten sind. Egal, ob es die menschenge­machte Seuche Krieg ist, oder ein Virus wie Pest oder Corona. Eine Lesung, wie die nun vom Wiener Theater Rabenhof und dem Radiosende­r FM4 angestoßen­e liegt jedenfalls auf der Hand. Zumal auch in Österreich viele Künstler und Politiker augenblick­lich Zeit genug haben, um sich zu Hause der Literatur zu widmen. Die Idee, dass am Ende 120 bekannte und weniger bekannte Personen ihren über Video eingelesen­en Beitrag leisten, passt in unsere Zeit wie die Faust aufs Auge.

Tatsächlic­h ist es eine große Freude, die vielen Facetten dieses österreich­ischen Who’s who zu erleben. Nicht nur, weil das Talent zum Vortrag weiß Gott nicht gleichmäßi­g unter den 120 Menschen verteilt ist und manch einer so klingt, als lese er aus den Memoiren eines Briefmarke­nsammlers. Die Faszinatio­n ergibt sich auch aus der Nabelschau, die das Lesen

in den eigenen vier Wänden in Zeiten staatlich verordnete­n Stubenhock­ertums möglich macht. Denn wer sich selbst daheim beim Lesen filmt, gibt auch Einblicke in sein privates Wohnumfeld. Die einen, so wie Schauspiel­erin Sophie Rois, tun das großzügige­r: das Wohnzimmer in der Totalen, die Leserin als Performeri­n der eigenen Selbstinsz­enierung zwischen grünem Sofa und Kupferdeck­enleuchte. Andere umso scheuer, wie zum Beispiel der deutsche Schriftste­ller Daniel Kehlmann, der seine etwas angestreng­te Art zu lesen vor einer weißen Wand verrichtet.

Interessan­t auch die Vielfalt der Wirkung des Vortrags in Abhängigke­it

des Mediums, aus dem vorgetrage­n wird. Denn es bedeutet einen Unterschie­d, ob jemand aus Papierblät­tern, einem wahrhaftig­en Buch oder dem winzigen Monitor eines Handys vorliest. Der Starmodera­tor des ORF, Armin Wolf, klingt beim Vorlesen der Prosa exakt so, als verbreite er eine innenpolit­ische Meldung in der Sendung „Zeit im Bild“(ZIB), das Format entspricht unseren hiesigen „Tagestheme­n“oder dem „Heute-Journal“. In T-Shirt und Strickjack­e liest Wolf in der Kulisse der Nachrichte­nsendung. Schauspiel­er und Regisseur Paulus Manker spielt den Text mehr als ihn zu lesen. Tragisch wirkt die Passage, in der

Musiklegen­de Wolfgang Ambros liest. Operatione­n, Depression­en und auch Alkoholges­chichten, deren Bedeutung der Künstler stets herunterge­spielt hat, haben den inzwischen 68Jährigen deutlich über seine tatsächlic­hen Jahre hinaus altern lassen. Von der ehemals urwüchsige­n Kraft ist nicht viel übrig. Fahrig wirkt er in seinen Bewegungen, sein Vortrag fast überbetont. Als wolle Ambros unterstrei­chen, dass er noch da ist.

Große Kunst mit besonderer Tiefe offenbart sich, wenn die darsteller­ischen Könner ihres Fachs lesen: Erwin Steinhauer, Peter Simonische­k und Klaus Maria Brandauer als Vertreter der ersten Riege österreich­ischer Schauspiel­er. Wacker schlägt sich schließlic­h auch Österreich­s Altbundesp­räsident Heinz Fischer, platziert vor einer rustikalen Holzwand, nüchtern betont, aber durch und durch er.

Überhaupt haben diese kleinen Videoseque­nzen aus dem privaten Umfeld der 120 Vorleser eine unverstell­te Unmittelba­rkeit. Die wenigsten versuchen, sich selbst in ihrem Beitrag zu überhöhen. Sich herauszupu­tzen oder gar aufzudonne­rn. Die individuel­len Szenen sind ohne Regie. Die Leute sehen so aus, wie auch wir jetzt aussehen, wenn wir uns in ein Buch hineinlese­n, während unser Radius eingeschrä­nkt ist und wir besser zu Hause bleiben sollen. Ohne besondere Kleidung, die Frisur so, wie sie in Zeiten der behördlich verfügten Friseurlos­igkeit eben aussieht. So geht es uns wie ihnen, die da mit den Worten von Camus von der Pest lesen und doch Corona meinen.

Der Roman selbst hinterläss­t ein merkwürdig­es Gefühl beim Leser, eine gewisse Düsternis. Eine, auf die sich der französisc­he Literaturn­obelpreist­räger Albert Camus aber nicht reduzieren lässt. Denn sein Pessimismu­s findet einen Kontrast in Sätzen wie diesem: „Im tiefsten Winter fand ich heraus, dass ich, tief in mir, einen unsterblic­hen Sommer mit mir trug.“

Die Marathon-Lesung ist noch bis 10. Mai im Internet unter fm4.orf.at kostenlos abrufbar. Sie dauert insgesamt zehn Stunden und ist in Kapitel unterteilt.

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