Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Zischen zwischen Zahn und Zunge
Sagen wir es in Abwandlung eines Schlagers aus den 1950ern: Es fliegt was in der Luft – genauer gesagt, kleine Tröpfchen, die derzeit mit ihrer gefährlichen Fracht für erhebliche Gesundheitsprobleme sorgen können. Nun haben Forscher unlängst darauf hingewiesen, dass Corona-Viren nicht nur beim Niesen, Husten oder Singen übertragen werden, sondern auch beim normalen Sprechen – und besonders bei Zischlauten. Und wann zischt es so richtig?
Die Phonetik, also die Lehre von den Lauten, ist eine hochkomplexe Disziplin, in deren Tiefen wir jetzt nicht abtauchen wollen. Ohne die Sonderzeichen des phonetischen Alphabets geht das eh nicht. Also nur so viel: Es gibt Plosive (Verschlusslaute) wie p, t oder k, bei denen die Atemluft kurz
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
gestaut und dann losgelassen wird. Es gibt Frikative (Reibelaute) wie f, s, sch (Schuh) oder ch (ich), bei denen die Luft zwischen Zunge, Zähnen und Lippen entweicht. Und es gibt Affrikate wie pf, ts (Katze) oder tsch (Rutsch), bei denen ein Plosiv und ein Frikativ eine enge Verbindung eingehen. Zischlaut ist eigentlich kein Fachbegriff. Aber man versteht darunter Frikative oder Affrikate, bei denen es hörbar zischt oder pfeift. Dabei ist der Atemausstoß größer, meist feuchter – und deswegen derzeit gefährlicher. Nur ein Beispiel: Bei flutschen kann halt mehr herausflutschen, als zuträglich ist. Ohnehin sind wir Deutsche ein sehr konsonantenfreudiges Volk, und eine zärtliche Anrede wie mein Schätzchen ist dann leider zischtechnisch gesehen infektionsträchtiger als italienisch mi amore oder französisch mon amour. Übrigens kann auch die Intensität des Luftausstoßes bei bestimmten Lauten von Sprache zu Sprache verschieden sein. Hier zum Beweis ein nettes Experiment für jede deutschfranzösische Runde: Man setze sich direkt vor eine brennende Kerze und sage den Satz: La pipe du papa du Pape Pie pue. Auf Deutsch: Die Pfeife des Vaters von Papst Pius stinkt, was wir hier jetzt einfach so stehen lassen, ohne näher über den Wahrheitsgehalt nachzudenken. Spricht nun ein Deutscher den Satz, so flackert die Flamme bedenklich oder geht sogar aus, beim Franzosen zittert sie allenfalls ein bisschen. Wir lassen also beim entschieden mehr Luft über die Lippen entfleuchen als unsere Nachbarn jenseits des Rheins.
pDa die Deutschen sich immer mehr englische Wörter aneignen, sollten wir uns noch kurz dem th-Laut zuwenden, mit dem Muttersprachler ohnehin ihre Schwierigkeiten haben. Und nun ist er auch noch von virologischer Relevanz! „Wenn ein Infizierter vor mir steht und thunderstorm sagt, ist die Gefahr groß, mich anzustecken“, erklärte kürzlich eine Umweltmedizinerin von der TU München. Nun hätte just in einem Monat in Neuhausen ob Eck das Southside-Festival über die Bühne gehen sollen – abgesagt, was Tausende verständlicherweise sehr bedauern. Allerdings entfällt damit auch das leidige Problem, wie sich dieses vermaledeite Southside möglichst unfallfrei aussprechen lässt. Denn da treffen ein dentaler Frikativ (th) und ein alveolarer Frikativ (s) in einem Wort aufeinander – oder anders gesagt: da liefern sich zwei Reibelaute zwischen Zähnen und Zunge einen aufreibenden, meist aussichtslosen Kampf. Und in Corona-Zeiten wäre die Alb womöglich zum Hot Spot geworden.
Das hat sich erledigt – wie hoffentlich irgendwann auch diese Krise als Stichwortgeber für Sprachglossen.
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