Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Da kann aus Belastung schnell Überlastung werden“
Gesamtelternbeiratsvorsitzende des Störck-Gymnasiums spricht über die Ausnahmesituation für Familien und Lehrer
- Mit großer Wucht greift die Corona-Pandemie seit Wochen auch in das gesamte Bildungssystem ein. Erst seit kurzem dürfen Schüler zumindest teilweise wieder zur Schule gehen. Im Zuge der Ausgangsbeschränkungen war von einem Tag auf den anderen Homeschooling, der Unterricht zu Hause, angesagt. Wie sind Kinder und deren Familien mit dieser Ausnahmesituation zurechtgekommen? Haben sich im Bildungssystem in diesem Kontext auch Schwachstellen gezeigt? Anita Metzler-Mikuteit, Mitarbeiterin der „Schwäbischen Zeitung“, hat sich darüber mit Antje Henkel, der Vorsitzenden des Gesamtelternbeirats des Störck-Gymnasiums, unterhalten.
Frau Henkel, seit Mitte März herrscht wegen der Corona-Pandemie eine Ausnahmesituation. Wie kommen die Beteiligten aus Ihrer Sicht damit zurecht?
Henkel: In den meisten Fällen scheint der Corona-Familienalltag erstaunlich gut zu klappen. Ich habe sehr positive Rückmeldungen von mehreren Bildungseinrichtungen bekommen. Die technischen Herausforderungen des Homeschoolings werden auch von vielen jüngeren Schüler inzwischen toll gemeistert. Die großen Enttäuschungen lagen in der Anfangszeit eher im außerschulischen und im Freizeitbereich, weil etwa der ersehnte Frankreich-Austausch oder der Besuch des Landschulheims nicht stattfinden können. Oder weil das geliebte Fuß- oder Handballtraining und selbst die Geburtstagsparty ausfallen müssen. Nach elf Wochen Shutdown spürt man deutlich die wachsende Unruhe, Ungeduld und Unzufriedenheit der Kinder und Jugendlichen. Sie brauchen inzwischen immer mehr Zuspruch und Anreize, um ihre Aufgaben zu erledigen. Sie vermissen schmerzlich den Kontakt zu ihren Freunden, Mitschülern und Lehrern.
Und wie geht es aus Ihrer Sicht den Familien? Und den Alleinerziehenden?
Henkel: Die Familien haben die Schutzmaßnahmen der Regierung trotz massiver Einschränkungen tatkräftig unterstützt und diszipliniert mitgetragen. Damit haben wir alle einen Beitrag geleistet, dass uns in Deutschland so schreckliche Bilder wie in Italien, Spanien oder in den USA erspart blieben. Je länger die Situation aber andauert, umso belastender und zermürbender wird sie empfunden. Viele sind besorgt, ob der Lernstoff überhaupt noch aufgeholt werden kann und welche Auswirkungen das Fehlen von Sozialkontakten auf unsere Kinder langfristig hat. Gleichzeitig wächst die allgemeine Verunsicherung und der Druck von außen, besonders, wenn Kurzarbeit oder gar der Verlust des Arbeitsplatzes drohen. Alleinerziehende sollen all dies nervlich und finanziell allein bewältigen – eine Herkulesaufgabe. Es ist daher nur allzu verständlich, dass der Wunsch und der Ruf nach Lockerungen täglich lauter wird.
Nicht alle Familien waren und sind digital so ausgestattet, dass das Homeschooling problemlos möglich ist. Von Seiten des Landeselternbeirats gab es unter anderem den Vorwurf der digitalen Konzeptlosigkeit des Kultusministeriums.
Henkel: Die Lernsituation zuhause ist nicht nur anders als in der Schule, sie ist auch in jeder Familie individuell verschieden. Das fängt bei der digitalen Ausstattung an. Hier hat die Politik Zuschüsse für einkommensschwache Haushalte angedacht. Aber es gibt ja noch viele weitere Faktoren, die das Homeschooling beeinflussen. Nicht alle Teilorte in unserem Landkreis haben eine schnelle Internetverbindung, nicht jeder Schüler hat einen separaten, ruhigen Raum zum Lernen, nicht alle Eltern die Zeit und Ausbildung, um bei Fragen zum Stoff oder bei Computerproblemen einspringen zu können. Zudem spielen Alter und Lerntyp der Schüler eine wichtige Rolle. Chancengleichheit ist so kaum herzustellen. Unser Hauptziel muss daher die baldmögliche Rückkehr zum klassischen Präsenzunterricht sein. Dieser kann und sollte durch digitale, allen zugänglichen Unterrichtsmethoden und -einheiten ergänzt werden.
Gab es denn konkrete Beschwerden von Eltern? Konkrete Bitten um Unterstützung?
Henkel: Bei mir persönlich sind keine Beschwerden oder Hilferufe eingegangen, dafür aber viele Tipps, Anregungen und gegenseitige Unterstützungsangebote. Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Corona-Krise manche Eltern und Alleinerziehende völlig unverschuldet in eine Notsituation gestürzt hat. Da kann aus Belastung schnell Überlastung werden. Ich möchte alle Betroffenen ermutigen, Hilfsangebote, zum Beispiel über die jeweilige Schulsozialarbeit, aktiv und frühzeitig in Anspruch zu nehmen.
Es haben sich ungewollt so manche Schwachstellen im Bildungssystem gezeigt, oder?
Henkel: Elternverbände weisen seit vielen Jahren auf Schwachstellen im Bildungssystem hin: Der Lehrermangel etwa oder der Streit um die Lernmittelfreiheit. Momentan steht natürlich das Thema Digitalisierung der Schulen im Fokus. Der Stand der Digitalisierung an den einzelnen Schulen ist sehr unterschiedlich. Das Störck-Gymnasium ist hier sehr gut ausgestattet und verfügte bereits vor der Corona-Pandemie über eine funktionierende Online-Plattform. Ich habe aber auch mit Amtskollegen gesprochen, an deren Schulen erst einmal damit angefangen werden musste, den E-Mail-Verteiler zu vervollständigen. Um einen hochwertigen und einheitlichen Standard wie im „analogen“Unterricht an allen Schulen zu gewährleisten, brauchen wir eine leistungsfähige digitale Infrastruktur, klare Leitlinien zum Online-Unterricht und entsprechend fortgebildete Lehrer. Übrigens auch eine Planstelle für IT an den Schulen, denn Hard- und Software müssen professionell gewartet werden. Diese Investitionen werden sich auszahlen, denn wir dürfen nicht vergessen, dass ein Teil der Schüler aufgrund von Risikofaktoren weiterhin ausschließlich online beschult werden kann. Und auch in den Regelunterricht werden langfristig digitale Methoden und Elemente einfließen.
Wir machen hier ja gerade auch einen riesigen Entwicklungssprung und sammeln wertvolle Erfahrungen für die Zukunft.
Schritt für Schritt dürfen die Kinder und Jugendlichen wieder zurück an die Schulen. Die Abiturienten stecken mitten in den Prüfungen und müssen wie es scheint auf ihren Abiball verzichten. Gibt es Überlegungen, was man den Schülern statt eines großen Festaktes alternativ anbieten kann?
Henkel: Ich bin erleichtert, dass zumindest ein teilweiser Präsenzunterricht für alle Klassenstufen bald wieder möglich ist. Ich glaube, unsere Kinder haben sich noch nie so sehr darauf gefreut, wieder in die Schule zu gehen! Auch begrüße ich sehr, dass die Prüfungen an allen Schulen stattfinden können und die Schüler einen vollwertigen Abschluss ablegen dürfen. Dies stand ja nicht zu jedem Zeitpunkt fest. Die nervliche Belastung für die Prüflinge ist außergewöhnlich hoch. Umso mehr drücke ich jedem Einzelnen die Daumen. Und wenn dies geschafft ist, wird auch ein würdiger und feierlicher Rahmen für die Zeugnisübergabe gefunden sein. Wie genau dieser aussehen kann, hängt auch von möglichen weiteren Lockerungen ab.