Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die skurrile Renaissance des Erdbeerfelds
Mehr Menschen als sonst wollen in diesem Jahr die Früchte in Engelswies selbst pflücken
- Emsig wühlen sich Gabriel, Lukas und Anna mit ihrer Mutter Stefanie Nuber durch die Stauden, heben Blätter, suchen am Boden, und wenn sie fündig werden, füllen sie ihre Plastikkörbe Frucht um Frucht auf, bis sie gemeinsam auf fast zehn Kilo kommen. Wie viele andere sind sie an diesem Sommertag auf der Erdbeerplantage Schilling in Engelswies und legen sich einen Vorrat der kleinen, roten Beeren zu. Das Engelswieser Unternehmen Schilling betreibt ein Erdbeerfeld auch im Bad Saulgauer Stadtteil Fulgenstadt.
Bevor es auf dem Feld aber richtig mit Sammeln losgeht, gilt es erst einmal, den Mundschutz anzuziehen. Im Kassenbereich ist er Pflicht, denn dort tummeln sich die Menschen, sei es, um sich anzumelden oder um ihre Beute abzuwiegen. Auf dem Feld wiederum dürfen die fleißigen Pflücker wieder unmaskiert ernten. Doch das kurze Tragen der Gesichtsmaske stößt bei einigen auf Wiederstand. An diesem Tag verdreht eine Handvoll Kunden zwar bloß die Augen, doch es habe auch schon wilde Diskussionen gegeben, sagt Rolf
Weinzierle, Eigentümer von Erdbeer-Schilling, der 29 Felder bewirtschaftet.
„In diesem Jahr haben wir einiges mitgemacht“, sagt er. Gemeint ist damit nicht nur das Unverständnis mancher Kunden, sondern auch die Trockenheit und das Fehlen der Arbeitskräfte. Saisonarbeiter habe er nicht einsetzen können, obwohl die Arbeit zunahm, mussten doch schon im April jedes der Felder bewässert werden, um die Ernte zu retten. Also habe er deutsche Helfer engagiert, die entsprechend teurer waren, womit auch der Erdbeerpreis in diesem Jahr um einen Euro gestiegen ist. Doch dafür ernte er viel Verständnis. „Im Geschäft kostet das Kilo knapp acht Euro, bei uns ist es trotz der Preiserhöhung weniger.“
Und die Pandemie hat noch andere Auswirkungen. „Wir wussten lange nicht, ob wir überhaupt öffnen dürfen“, sagt Weinzierle. Erst im Mai habe er erfahren, dass es doch funktioniert. Zehn Tage lang dürfen sich die Fruchtliebhaber nun schon auf dem Feld austoben – und der Ansturm war besonders zu Beginn entsprechend groß. „Wir hatten extra Schilder aufgehängt, auf denen steht, dass Familien bloß mit zwei Leuten kommen dürfen, aber solche Regeln sind nicht durchsetzbar“, sagt er. Mit „Kind und Kegel“seien die Menschen in den ersten Tagen auf die Plantage „gestürmt“. „Manche Eltern sind da einfach unvernünftig“, so Weinzierle. Auch auffällig sei, dass viele Kunden vorher noch nie Erdbeeren gepflückt haben. „Sie schauen von oben, ob sie Erdbeeren sehen, laufen dann drei Kilometer für ein Kilo und sagen, sie finden nichts“, erzählt er. Die ältere Generation wiederum, die auch trotz Corona-Pandemie nicht ausbleibt, suche viel genauer und habe nach 20 Minuten zehn Kilo gesammelt.
Den Vorteil der Situation möchte er aber nicht ausblenden: „Es ist ein gutes Erdbeerjahr.“Die Billigware in den Supermärkten fällt weg oder ist teuer, sodass sein Umsatz wächst – auch wenn die Unkosten steigen und lediglich die letzte Pflückwoche tatsächlich Gewinn einbringe.
Für viele Kunden, darunter die 18jährige Vivienne Keller, ist das 1,5 Hektar große Erdbeerfeld selbst ein Gewinn. Sie komme momentan fast jeden zweiten Tag von Meßkirch nach Engelswies, um sich mit den Früchten einzudecken und daraus Erdbeerschnitten und Milchshakes zu machen. „Es ist für mich eine Freizeitbeschäftigung und ich bin draußen in der Natur“, sagt sie. Auch an diesem Tag erntet sie mit einem Familienmitglied etwa zehn Kilo.
Annette Steidler wiederum war selbst als Kind zum letzten Mal auf dem Engelswieser Erdbeerfeld, das es seit über 20 Jahren schon gibt. Sie habe über die Nachbarschaft gehört, dass es die Plantage in Engelswies noch gibt und sei wegen des guten Wetters mit ihrer Tochter Hanna und ihrer Mutter Vroni Reiser gekommen, um später die Früchte einzufrieren und Marmelade daraus zu machen – wie viele, die an diesem Tag kommen.
Auch Familie Nuber hat das vor und ist deshalb aus Stetten am kalten Markt nach Engelswies angereist. Der Familienvater, der nicht dabei ist, habe sich Erdbeereis, -torte und -marmelade gewünscht, und diesem Wunsch ist seine Familie gerne nachgekommen. Den Vorteil im Pflücken sieht die elfjährige Anna in der Auswahl: „Wir können uns hier aussuchen, welche Erdbeeren wir mitnehmen wollen.“Doch etwas anderes, fügt ihr Bruder Lukas an, ist noch schöner, nämlich „das heimliche Naschen“.