Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Südwest-Grüne als Vorbilder?
Viel Lob aus Baden-Württemberg für neues Grundsatzprogramm der Partei
- Die Grünen in BadenWürttemberg verfolgen seit ihrer Gründung vor 40 Jahren einen realpolitischeren Kurs als die Bundespartei. Zumindest bisher. Der Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm spricht eine pragmatische Sprache – sehr zur Freude führender Politiker aus dem Südwesten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht seinen Landesverband als Vorbild.
Gemeinsame Werte, Ziele und Überzeugungen: Das beschreiben Parteien in ihren Grundsatzprogrammen. Das letzte der Grünen ist 20 Jahre alt und soll beim Bundesparteitag im November in Karlsruhe einem neuen weichen. Zwei Jahre haben die Mitglieder dafür diskutiert und gearbeitet – unter anderem im Februar vergangenen Jahres in Stuttgart.
Die Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock haben das Ergebnis kürzlich vorgestellt – und einen „Anspruch zu führen“damit verbunden. Für die Öko-Partei typische Themen wie Umwelt- und Klimaschutz spielen weiter eine zentrale Rolle. Die Grünen wagen sich aber auch auf Felder wie Sicherheit, die sie bisher weniger beachteten – wohl auch, weil es innerparteilich sehr unterschiedliche Meinungen dazu gibt.
Winfried Kretschmann bezeichnet den Entwurf als gelungen. „Im Gegensatz zu früheren Programmen macht er Angebote statt dem Versuch, die Menschen zur reinen Lehre zu bekehren.“Kaum ein anderer Grüner steht so für eine liberale Haltung wie Kretschmann. Er gehörte dem ökolibertären Flügel seiner Partei an, als es diesen in den 1980er-Jahren neben den Realos und linken Fundis gab. „Der Entwurf macht klar, dass wir Grüne uns längst nicht mehr länger als ein Korrektiv verstehen, sondern selbst den Anspruch haben, politische Führung zu übernehmen. Das heißt: Orientierung anbieten und den Kurs für die großen Fragen vorgeben.
Da ist das, was wir in Baden-Württemberg machen, sicher ein wenig eine Blaupause.“Als Vorbild sieht er seinen Verband auch für die Öffnung der Partei für die breite Gesellschaft. „Vielen Menschen eine Stimme geben und gleichzeitig eine klare Haltung haben – das ist das Kunststück, das wir Grünen schaffen müssen. Und da sind wir in Baden-Württemberg schon ein wenig die Blaupause.“
Auch die Landesvorsitzende Sandra Detzer sieht Einflüsse aus BadenWürttemberg – aber auch aus anderen Ländern. „Es ist inzwischen Realität, dass Grüne in der Regierung sitzen.“Deshalb sei dieses Programm anders als die früheren. „Es macht was mit einem, wenn man inhaltliche Führerschaft übernimmt. Durch die steigende Relevanz steigt die Bereitschaft auch zum innerparteilichen Kompromiss.“Hart gerungen haben die Grünen etwa um ihre Haltung zur Gentechnik und zur Homöopathie. Erstere wird nicht mehr kategorisch abgelehnt. „Nicht die Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum“, heißt es im Entwurf. Das Wort Homöopathie kommt derweil gar nicht vor. „Die Regierungsarbeit von Grünen hat das Programm ebenso mitgeprägt wie die
Liebe zum Vordenken der früheren Generationen“, sagt Detzer. „Es ist die Mischung aus beiden Welten.“
Auch für die Vize-Fraktionschefin im Bundestag, Agnieszka Brugger, zeugt der Entwurf von der Entwicklung ihrer Partei. „Ich glaube, das Grundsatzprogramm hält nochmal fest, was sich in den letzten Jahren bei den Grünen getan hat“, sagt die Ravensburger Abgeordnete. Das Programm biete Lösungen für politische Themen, immer mit dem Anspruch, etwas für die Menschen zu verbessern. „Das Programm hält die Waage zwischen Pragmatismus und Vision – ohne sich zu sehr in Details zu verlieren, wie das früher manchmal der Fall war.“Als konkretes Beispiel für den parteiinternen Wandel verweist die sicherheitspolitische Sprecherin auf den Abschnitt „Globale Sicherheit“. „Ich freue mich über den differenzierten und positiven Bezug auf die Bundeswehr. Da hat sich die grüne Debatte in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt“, so Brugger.
Lob gibt es sogar von der Grünen Jugend. „Das ist kein Realoprogramm geworden“, sagt Landessprecherin Lea Elsemüller. „Was wegfällt, ist das ständige Zurückblicken. Wir stehen vor großen Herausforderungen wie der Klimakrise.“Darüber werde heute viel breiter diskutiert – auch dank der Fridays-for-Future-Bewegung. Das Öko-Klimakapitel bezeichnet sie als gute Grundlage auch für die Landtagswahl im Südwesten im März 2021. Doch sieht sie auch noch Nachbesserungsbedarf, etwa dort, wo es um Mobilität geht. Gerade wegen der für den Südwesten bedeutenden Autoindustrie müsse die Transformation gelingen. Deshalb sagt sie auch: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass da vonseiten der Grünen Jugend einige Änderungsanträge kommen werden.“Bis Ende Juli ist das möglich.
Elmar Braun zeigt sich skeptischer. Seit 1991 ist er Bürgermeister von Maselheim im Kreis Biberach – er war deutschlandweit der erste in diesem Amt. „Es ist ein Stück weit wie das Neue Testament, in dem alles drinsteckt, das man immer auf die jeweilige Zeit angleichen muss“, sagt er zum Programm. „Ob wir dann die Menschen dazu haben, die das mit Leben füllen, weiß ich nicht.“
Für ihn wirft das Programm viele Fragen auf. Hat seine Partei wirklich den Mut, sich für Gentechnik zu öffnen? Kann sie das Prinzip der Selbstbestimmung leben? „Die kollektive Haltung in unserer Partei ist schon so, dass man Menschen zu ihrem Glück zwingen will“, sagt Braun. Er hegt zudem Zweifel daran, ob die Partei den eigenen Ansprüchen an Demokratie gerecht wird. Zur Demokratie gehöre Meinungsvielfalt, es brauche Typen wie Winfried Kretschmann und Boris Palmer, die einen anderen Kopf hätten.
Mit Palmer hadert die Partei schon lange. Der Vorstand der Südwest-Grünen hatte den Tübinger Oberbürgermeister zuletzt nach einer Äußerung zur Corona-Pandemie aufgefordert, die Partei zu verlassen. Er selbst betont nun: „Ich bin in der richtigen Partei, denn dieses Grundsatzprogramm hat sich auf mich zubewegt.“Ob Einsatz von Gentechnik oder von Militär im Extremfall zur Rettung von Leben: Palmer lobt den realpolitischen Duktus in dem 58-seitigen Papier.
Immer wieder hatte er sich mit seiner Partei auch über Migration gestritten. „In dem Papier ist der Dissenz dazu weg“, sagt Palmer. Er stelle lediglich Lücken fest. „Man liest alles, was richtig ist, über Integration, aber Forderungen und Sanktionen, die man als Innenminister auch im Reportoire haben muss, sind nicht drin.“Auch „übliche Empörungsrituale“kann er nicht finden. Und dass der Ökologieteil weit vorne und sehr dominant vorkommt, lobt er ausdrücklich – deshalb sei er ja in der Partei. „Ich sehe jetzt noch weniger Grund, die Partei zu verlassen, als vorher“, so Palmer.