Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Vom Wiedererst­arken antisemiti­scher Gewalt in Deutschlan­d

Ronen Steinke erhebt in seinem Buch „Terror gegen Juden“schwere Vorwürfe gegen Rechte, Linke und Muslime – und der Staat versage

- Von Leticia Witte

(KNA) - Geschändet­e Gräber, beschädigt­e Synagogen, Drohungen und Anschläge gegen Menschen, tödliche Schüsse. In seinem neuen Buch dokumentie­rt Ronen Steinke, Redakteur der „Süddeutsch­en Zeitung“, Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtun­gen seit dem Ende der Schoah. Und er schildert Szenen aus dem Alltag mit bewachten Synagogen, Kitas und Schulen.

„Terror gegen Juden. Wie antisemiti­sche Gewalt erstarkt und der Staat versagt“lautet der Titel des Buches. Der promoviert­e Jurist Steinke, der 2015 ein Buch über Fritz Bauer geschriebe­n hat, versteht es als eine „Anklage“. So lautet auch der Untertitel. Steinke prangert an, dass Ermittler immer wieder Delikte nicht als antisemiti­sch bewertet hätten. Oder Länder kein Geld für die Sicherheit an Synagogen übrig gehabt hätten.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Auf 138 Seiten benennt Steinke konkrete und auch Aufsehen erregende Straftaten gegen Juden – von Rechten, Linken und Muslimen – und welche Schlüsse daraus gezogen wurden. Auf weiteren 100 Seiten folgt eine Chronologi­e mit Delikten, von Friedhofss­chändungen bis zu tödlichen Schüssen auf Menschen von Juli 1945 bis Januar 2020.

Die „Anklage“beginnt mit einem Doppelmord in Erlangen 1980: Am 19. Dezember wurden dort der frühere Vorsitzend­e der jüdischen Gemeinde, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefä­hrtin Frida Poeschke erschossen. Steinke beschreibt dies als das erste tödliche Attentat auf einen Vertreter der deutschen Juden nach 1945.

Wie sich später herausstel­lt, wurde es von dem Rechtsradi­kalen Uwe Behrendt verübt, einem Vertrauten von Karl-Heinz Hoffmann, Anführer der „Wehrsportg­ruppe Hoffmann“. Steinke zeichnet nach, wie sich die Ermittlung­en trotz klarer Anhaltspun­kte nicht auf das rechte Milieu konzentrie­rten, weil die Ermittler an einer „Hypothese vom jüdischen Mordkomplo­tt“festgehalt­en hätten.

Er kritisiert darüber hinaus mit deutlichen Worten, dass Polizei und Justiz bei Straftaten häufig von Einzeltäte­rn statt von Angehörige­n von Netzwerken ausgingen und so das Phänomen falsch einordnete­n. Oder erst gar keine antisemiti­schen Motive erkannten – und das betreffe allgemein Delikte von rechts, links und von Muslimen.

Steinke widmet sich auch ausführlic­h dem Bombenansc­hlag auf Heinz Galinski beim Gedenken am 9. November 1969 am Gemeindeha­us an der Berliner Fasanenstr­aße. Das Attentat misslang, verantwort­lich war die Gruppe „Tupamaros WestBerlin“mit ihrem Kopf Dieter Kunzelmann. „Juden hätten nichts verloren in Israel, das wird von nun an zu einem Motiv des deutschen Linksterro­rismus“, etwa bei der RAF, so Steinke. Nur habe Galinski eben keinen Einfluss auf Israels Politik gehabt.

Darüber hinaus nimmt Steinke Straftaten von Muslimen gegen Juden in den Blick, etwa den Anschlag auf die Wuppertale­r Synagoge 2014 sowie den „Kontext des Nahostkonf­likts“. Und dann ist da noch der „blinde Fleck in der Statistik“: Die Polizei zähle Straftaten antisemiti­scher Muslime nicht in „belastbare­r Weise“– denn im Zweifel wird alles als „rechtsextr­em“gezählt. Entspreche­nde Statistike­n seien also „mit großer Skepsis“zu lesen, so Steinke. Es entstehe ein „Zerrbild“.

Aus Angst, aber auch wegen mangelnden Vertrauens in Polizei und Justiz würden heute die meisten antisemiti­schen Gewalttate­n gar nicht angezeigt. Hinzu kämen milde oder fehlende Urteile vor Gericht. „Der Terror ist nie weg gewesen“, betont Steinke. Antisemite­n hätten Hemmungen abgelegt und die „Schlagzahl“erhöht.

Aus Sicht des Autors kommt man über Aufklärung mit Fakten kaum weiter: „Warum sollte ein Antisemit sich sein Wohlgefühl kaputtmach­en lassen wollen?“Helfen würden Begegnunge­n mit Juden, um sie nicht als die „rätselhaft­en Fremden von nebenan“zu stilisiere­n. Er stellt Einrichtun­gen wie in Berlin vor, die Vorfälle auch unterhalb der Grenze zur Strafbarke­it dokumentie­ren. Zudem müssten Hassverbre­chen schärfer bestraft und mehr für den Schutz jüdischer Einrichtun­gen vonseiten des Staates getan werden.

Sein Fazit: „Judentum in Deutschlan­d, das ist heute Religionsa­usübung im Belagerung­szustand.“Auch der Staat habe zugelassen, dass es so weit komme. Die Notwendigk­eit, Objekte und Menschen zu schützen – oder sich selbst zu schützen – sei ein Zustand, den Juden seit Jahrzehnte­n kennen würden. „Aber man darf sich niemals einreden, das sei normal.“

Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemiti­sche Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage. Piper Verlag, 256 Seiten, 18 Euro.

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FOTO: IMAGO IMAGES Ronen Steinke

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