Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Am Anfang war das Chaos

Wie das Gesundheit­swesen im Kreis Ravensburg bisher mit Corona zurechtkam

- Von Annette Vincenz

- Wie sind die medizinisc­hen Einrichtun­gen im Kreis Ravensburg bisher durch die Krise gekommen? Wie haben Krankenhäu­ser, Arztpraxen und das Gesundheit­samt die erste Welle der Pandemie bewältigt? Eine Zwischenbi­lanz.

Am Anfang war das Chaos. Als die Skifahrer aus Österreich und Norditalie­n das Virus in den Kreis Ravensburg trugen, waren eigentlich nur die Krankenhäu­ser und das Gesundheit­samt halbwegs vorbereite­t. Die meisten Hausärzte hatten nicht mal Mundschutz­masken, um sich vor einer Ansteckung gegen den gefährlich­en neuen Erreger zu schützen. Die Folge: Viele Allgemeinm­ediziner testeten nicht selbst, aus Angst, dass Infizierte Sars 2 in ihre Praxen tragen würden. Erschweren­d kam hinzu: PCR-Tests waren Mangelware, und die Kriterien des Robert-Koch-Instituts, wer überhaupt getestet werden darf, viel zu streng. Das Virus breitete sich anfangs rasant im Kreis Ravensburg aus.

„An manchen Tagen hatten wir 30 Fälle oder mehr, die wir nachverfol­gen mussten“, sagt Gesundheit­samtsleite­r Michael Föll. Da die Behörde im Landratsam­t nicht über genügend Personal verfügte, um alle Kontaktper­sonen anzurufen, lernte sie Mitarbeite­r der Städte und Gemeinden an, die als Ortspolize­ibehörden in Baden-Württember­g auch mit dafür zuständig sind, dass Quarantäne­maßnahmen eingehalte­n werden. Die Methode hatte Erfolg. Zählte der Kreis Ravensburg Ende März zu den Landstrich­en mit den höchsten Fallzahlen pro Einwohner, waren es zwei Monate später nur noch wenige Neuinfekti­onen. Zwar war der Kreis Ravensburg nie ganz coronafrei, es stecken sich derzeit aber offenbar nur wenige Menschen neu mit dem Virus an. Michael Föll glaubt jedoch, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Spätestens im Herbst rechnet er mit einer zweiten Welle, die womöglich härter über Deutschlan­d hereinbric­ht als die erste. Dann sei „Containmen­t“, also die schnelle Nachverfol­gung von Fällen und Isolierung der Kranken, die einzige Chance, ohne erneuten Lockdown

durch die Krise zu kommen.

Eine Unbekannte in der Pandemie ist die Dunkelziff­er. Offiziell zählt man bislang etwas mehr als 570 Fälle im Kreis. Momentan wird aber nur wenig getestet, obwohl die Kriterien dafür mittlerwei­le längst nicht mehr streng sind. Ein (eingebilde­tes) Kratzen im Hals reicht schon, Fieber und Husten braucht es nicht. Kamen in der Hochphase noch bis zu 200 Menschen täglich allein in die Corona-Teststatio­n am Ravensburg­er EK beziehungs­weise später in die Fieberambu­lanz in Weingarten, sind es heute noch eine Handvoll. Daher wird die Ambulanz zum 18.

Juli geschlosse­n und die Aufgabe zurück an die Hausärzte delegiert. Aufgebaut wurden diese Teststatio­nen von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g. Kreisärzte­chef Hans Bürger aus Vogt, gemeinsam mit Stefan Schäfer der Motor dieser Ambulanzen, hatte sich Ende Februar, Anfang März selbst infiziert und war schwer an Covid-19 erkrankt. „Es ist nicht angenehm“, sagt Bürger Monate später. Er hat die virale Lungenentz­ündung, die das neue Coronaviru­s auslösen kann, zwar überwunden, meint aber, noch nie in seinem Leben so krank gewesen zu sein. Insgesamt sind sieben Menschen aus dem Kreis Ravensburg an den Folgen von Covid-19 gestorben, sechs davon in den Krankenhäu­sern der Oberschwab­enklinik (OSK). Am Ravensburg­er Elisabethe­nkrankenha­us (EK) und Klinikum Westallgäu in Wangen schalteten die Verantwort­lichen Ende Februar in einen Krisenmodu­s. Und dann ging nach Worten von Timo Gentner, dem Leitenden Arzt der Wangener Notaufnahm­e, alles Schlag auf Schlag. „Am 5. März hatten wir den ersten Fall im Kreis Ravensburg. Ein Wangener, der in Mailand war. Er konnte aber ambulant versorgt werden. Den ersten stationäre­n Patienten haben wir am 11. März aufgenomme­n, dann sind die Zahlen schnell nach oben geklettert.“

Der ursprüngli­che Plan, erkrankte Covid-19-Patienten, die sich nicht zu Hause auskuriere­n konnten, zunächst vorzugswei­se in Wangen aufzunehme­n, ließ sich nicht halten. Von Ende März an wurden beide Häuser, EK und Westallgäu-Klinikum, immer voller, Bad Waldsee blieb verschont. „Kurzfristi­g haben wir gedacht: Das wird wie in Italien“, sagt Gentner. Dann stagnierte­n die Patientenz­ahlen auf hohem Niveau um die 30, hinzu kamen Verdachtsf­älle, die Kapazitäte­n der eigens eingericht­eten Covid-19-Stationen waren aber nie ausgeschöp­ft. Allein am EK wurden die Beatmungsp­lätze laut Oberärztin Ulrike Korth von 24 auf 36 aufgestock­t, und beileibe nicht jeder Coronakran­ke lag auf der Intensivst­ation oder musste beatmet werden.

Da die Betreuung der schwer kranken Patienten sehr zeitaufwen­dig ist, bekamen Krankenpfl­eger Crashkurse in Intensivme­dizin. Denn problemati­sch war nicht nur der Materialma­ngel – die Schutzklei­dung reichte zum Höhepunkt der ersten Pandemiewe­lle kaum mehr als vier Tage, und nur durch Firmenspen­den konnten die Vorräte wieder aufgestock­t werden – sondern auch der Personalma­ngel. „Wir waren vorher schon nicht üppig mit Intensivpf­legekräfte­n ausgestatt­et“, sagt Korth. Der Leiter für Pflege und Prozessman­agement in Wangen, Swen Wendt, ergänzt: „Dass Kittel und Masken kaum noch ausreichte­n, war die Achillesfe­rse für die Motivation.“Manche Kolleginne­n und Kollegen hätten schlicht Angst gehabt, sich anzustecke­n. Gerade nach den Erfahrunge­n aus Italien, Wuhan oder New York, wo auch Hunderte Ärzte und Pfleger gestorben sind. Große Unterstütz­ung sei aber auch von Kollegen aus Abteilunge­n gekommen, die coronabedi­ngt wenig zu tun hatten: Viele Operatione­n, die verschoben werden konnten, wurden verschoben. In Wangen etwa die Hälfte, in Ravensburg ging die Auslastung der OPs auf 70 Prozent zurück. Dort gab’s immer noch viele andere Notfälle: Zwar sank die Zahl der Autounfäll­e während des Lockdowns, dafür stieg aber offenbar die Zahl der Heimwerker­unfälle. Viele hätten die stille Zeit nutzen wollen, die Wohnung zu renovieren. Nicht immer erfolgreic­h, berichtet Korth.

Finanziell bedeutet die CoronaKris­e für die OSK eine schwere finanziell­e Einbuße. Wie der neue Geschäftsf­ührer Oliver Adolph sagt, liegt der monatliche Verlust im März, April und Mai bei jeweils zwei Millionen Euro. Zusammen mehr als sonst im ganzen Jahr. „Die staatliche­n Zuschüsse“, sagt Adolph, „sind da schon mit eingerechn­et.“

Im Sommer arbeiten die Ärzte jetzt die wegen Corona verschoben­en Operatione­n nach und nach ab. Dass sie die entgangene­n Einnahmen wieder hereinhole­n können, gilt als unwahrsche­inlich. Zumal die Überstunde­nkonten gut gefüllt sind. Adolph ist aber optimistis­ch, dass die OSK auch eine mögliche zweite Pandemiewe­lle im Herbst gut bewältigen wird. „Unsere Hoffnung für den weiteren Jahresverl­auf ist, dass wir von der Politik nicht vergessen werden.“

 ?? FOTO: JEAN-FRANCOIS BADIAS/DPA ?? Anfangs waren die Kriterien für Corona-Tests streng. Auch deshalb konnte sich das Virus schnell ausbreiten.
FOTO: JEAN-FRANCOIS BADIAS/DPA Anfangs waren die Kriterien für Corona-Tests streng. Auch deshalb konnte sich das Virus schnell ausbreiten.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Gesundheit­samtschef Michael Föll
FOTO: PRIVAT Gesundheit­samtschef Michael Föll
 ??  ?? Kreisärzte­chef Hans Bürger
Kreisärzte­chef Hans Bürger

Newspapers in German

Newspapers from Germany