Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Menschen sind oft wahnsinnig verunsichert“
Der Freiburger Infektiologe Winfried Kern über Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung
- Über die Infektion mit dem Covid-19-Virus und die Auswirkungen wissen Mediziner immer mehr. In den Fokus der Forscher rücken nun die Langzeitfolgen einer Erkrankung, unter denen Patienten oft nach Monaten noch leiden. Professor Winfried Kern leitet die Infektiologie am Uniklinikum Freiburg und ist Pandemieberater der Landesregierung. Birga Woytowicz hat mit ihm über die Chancen auf eine vollständige Genesung gesprochen.
Was lässt sich heute schon über die Spätfolgen einer Virusinfektion sagen, die selber noch erforscht wird?
Es gibt bleibende Beschwerden verschiedener Art. Oftmals hängt das mit der Atmung zusammen, mit Luftnot. Oder aber Patienten können sich nicht konzentrieren oder haben Schwierigkeiten mit körperlicher Belastung. Es gibt Patienten, die noch fünf bis sechs Monate nach der Akuterkrankung Beschwerden haben. Am Universitätsklinikum haben wir jetzt mit Nachsorgeuntersuchungen begonnen. Manchmal sind die Veränderungen organisch gar nicht messbar. Dann sprechen wir von funktionellen Beschwerden, die nicht kritisch sind. Was man natürlich auch nicht vergessen darf: Es gibt Menschen mit Spätsymptomen, die nicht zu uns kommen. Daher ist unser Bild etwas verzerrt. Wie oft und wie lange Probleme auftreten und wie viel häufiger zum Beispiel als bei einer Grippe oder Sepsis, ist noch nicht klar.
Was ist mit Sonderfällen wie Hörschäden bis hin zur Taubheit?
Hörstörungen haben wir auch schon festgestellt, Taubheit aber noch nicht. Das ist aber theoretisch möglich. Da muss man im Einzelfall gucken, ob noch andere Dinge ursächlich waren. In der Regel sind dann auch nicht das Mittelohr oder die Gehörknochen betroffen. Meistens liegen die Schäden dann im Bereich des Nervensystems. Insgesamt ist dieses Thema aber nicht so prominent. Klar, wir nehmen diese Fälle durchaus ernst. Aber es wäre übertrieben, der Bevölkerung zu sagen: Oh Gott, nach einer CoronaInfektion wirst du nichts mehr hören.
Wie viel Hoffnung besteht, dass Spätfolgen wieder verschwinden?
Menschen sind oft wahnsinnig verunsichert. Das betrifft gerade Jüngere, die eine Infektion als großen Einschnitt erleben, weil sie sich zuvor noch nie so krank gefühlt haben. Aber wenn man organisch bei der Diagnostik nichts messen kann, sagen wir immer, dass die Beschwerden manchmal
Jahren ein Fotostudio betreibt. Am 5. März brach ihr berufliches und persönliches Leben jedoch zusammen. Nachts um 1.30 Uhr musste sie, von Fieber in die Knie gezwungen, in die Notaufnahme. „Ich habe wie verrückt gehustet – und hatte dabei das Gefühl, zu ersticken.“Auskurieren sollte sie sich zu Hause, was sie heute für fahrlässig hält. „Ich hätte Sauerstoff bekommen müssen, doch die haben mich richtig abgeschoben.“Nach den ein halbes, manchmal ein ganzes Jahr andauern können. Das ist in 80 bis 90 Prozent der Fall. Bei einer Infektionskrankheit gilt in der Regel: Je schwerer sie ist, desto größer ist der Prozentsatz derer, die sich verlangsamt fit fühlen. Echte bleibende Langzeitschäden wird es auch geben. Aber das wird nicht der klassische Typus sein.
Wenn ich eine Infektion unbeschadet überstanden habe und mich jetzt fit fühle: Kann ich mit Spätfolgen rechnen, die erst in einem Jahr spürbar sind?
Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Wenn jemand keine organischen Probleme hat und nach einem Jahr etwas entwickelt, dann steckt etwas anderes dahinter.
Inwiefern raten Sie zu Nachsorgeuntersuchungen?
Ich rate niemandem dazu. Aber wir bieten es an und machen das aus wissenschaftlichen Gründen, aus Neugier. Das ist auch wichtig für die Einschätzung der Erkrankung. Ob und wie viele Menschen chronische Folgen oder nur einen verzögerten Heilungsprozess erleben, hat auch Konsequenzen für die Bewertung der Impfindikation. Dieses Wissen gibt wichtige Hinweise für die Priorisierung, wer wann geimpft wird. Es wird nicht gleich so viel Impfstoff geben, um alle Menschen zu versorgen. Wir wollen nicht nur Todesfälle verhindern, sondern auch chronische Erkrankungen.
Manuela Hund aus Ravensburg über ihre Corona-Erkrankung
Um die Existenz ging es auch für Gudrun Haim (Name von der Redaktion geändert) aus Trossingen, in ihrem Fall allerdings rein menschlicher Natur: „Ich hatte Angst zu sterben“, sagt die 82Jährige, die Anfang April für zwölf Tage mit Corona im Tuttlinger Krankenhaus lag. Die am Tropf hing und im Fieberwahn fantasierte, die bis heute schwer an den Folgen trägt. „Mit Corona habe ich Krampfadern bekommen und mein linker Knöchel ist geschwollen.“Vor allem aber fehlt der Seniorin die Kraft für Freizeit und Haushalt. „Früher hat es mir Freude gemacht, zu kochen. Heute muss es sein.“Dazu kommen Schwäche- und Schwindelanfälle, „mein Kopf ist nicht mehr der, der er mal war“, sagt Haim. „Und ich bin nicht mehr die Frau, die ich vorher war.“
Dieses Gefühl teilt sie mit Miriam Mechtel, die zwar deutlich jünger ist, aber mit den Folgen der Krankheit genauso ringt. Der es schwerfällt, den Verlust an Lebensqualität zu verstehen: „Ich rauche nicht, ich ernähre mich bewusst, ich mache Sport – warum bei mir?“Diese Frage hat sich Mechtel oft gestellt, nun belastet sie die Sorge, nie mehr fit, nie mehr die alte zu werden. Ängste und Gebrechen schlagen ihr aufs Gemüt, kratzen an der Seele, sie verändern aber auch Denken und Bewusstsein. „Hätten Sie mich vor einem halben Jahr gefragt, ob ich mich impfen lasse, hätte ich sicher verneint“, sagt Mechtel. „Inzwischen würde ich es tatsächlich tun.“Auch wenn sie das Geschehene dadurch nicht mehr ungeschehen machen kann.