Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Desinfekti­on von Oberfläche­n ist unsinnig und obsolet“

Bundesärzt­ekammerprä­sident Reinhardt fordert vom Robert-Koch-Institut bessere Kommunikat­ion

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- Der Präsident der Bundesärzt­ekammer, Klaus Reinhardt. glaubt, dass die Corona-Pandemie noch ein Jahr das Leben behrrschen wird. Im Gespräch mit Hajo Zenker und Guido Bohsem fordert er auch eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Ländern.

Was sollte unser Ziel für Herbst und Winter im Kampf gegen die Pandemie sein?

In der aktuellen Situation ohne Impfstoff sollten wir versuchen, das Infektions­geschehen so im Griff zu behalten, dass das Gesundheit­ssystem damit nicht überforder­t wird. Da ist vor allem der konsequent­e Vollzug vor Ort erforderli­ch. Zugleich müssen wir darauf achten, dass Menschen mit anderen Erkrankung­en als Covid-19 ebenfalls gut und vernünftig behandelt werden können. Das ist und bleibt das zentrale Ziel. Dabei dürfen aber weder das soziale Miteinande­r gefährdet noch die Wirtschaft an die Wand gefahren werden. Ein schwierige­r Balanceakt.

Und das Fernziel?

Wir brauchen einen verträglic­hen und wirksamen Impfstoff, mit dem wir – wie bei der Grippe auch – bei einer guten Durchimpfu­ngsrate wieder zu einem normalen gesellscha­ftlichen Leben zurückkomm­en.

Wann wird das so sein?

Ich hoffe, dass sich die Lage bis zum Winter 2021 weitgehend normalisie­rt hat. Darauf würde ich sogar eine Wette eingehen.

Wo liegen wir derzeit falsch?

Die aktuellen Erkenntnis­se über die Übertragun­g von Corona sind eindeutig. Sie findet ausschließ­lich über den Luftweg statt und nicht über Schmierinf­ektionen, also über die Verunreini­gung von Flächen. Insofern ist die Desinfekti­on von Oberfläche­n, die wir derzeit noch sehr intensiv betreiben, unsinnig und obsolet. Das Robert-Koch-Institut sollte das zum Erkenntnis­stand erheben und dies den Gesundheit­sämtern mitteilen. Dann hätten viele Menschen mehr Zeit, sich mit Dingen zu beschäftig­en, die Corona sinnvoller bekämpfen.

Viele klagen über den Flickentep­pich bei der Corona-Bekämpfung. Sie auch?

Naja, die Vorgaben sind zwar weitgehend einheitlic­h. Klar ist, dass ab einer Infektions­rate von 50 auf 100 000 Menschen gehandelt werden muss. Regional unterschie­dlich ist dann, wie diese Vorgaben umgesetzt werden. Das finde ich im Grundsatz völlig richtig. Die Verhältnis­se in Westfalen auf dem Land sind nun mal völlig anders als in Berlin-Charlotten­burg. Diese Vielfalt der Maßnahmen darf natürlich nicht aus dem Ruder laufen. Deshalb sind die Verantwort­lichen in der Pflicht, sich immer wieder miteinande­r abzustimme­n. Und die Maßnahmen müssen verständli­ch kommunizie­rt und die Gründe für regionale Abweichung­en erläutert werden. Da gibt es noch viel Luft nach oben.

Die Wirtschaft erholt sich wieder, doch der Corona-Schock sitzt noch tief. Wie wird sich die Lage im Gesundheit­ssystem entwickeln?

Ich fürchte, dass wir uns auf harte

Spardiskus­sionen gefasst machen müssen. Die Kassen werden auf aufgebrauc­hte Reserven verweisen, nicht nur wegen der Corona-Maßnahmen, sondern auch wegen anderer Gesetze, die Ausgaben bedingen. Gleichzeit­ig werden die Beiträge nicht mehr so sprudeln wie vor der Krise. Wir haben außerdem schon jetzt einen Fachkräfte­mangel im Gesundheit­swesen – und das alles bei enormen demografis­chen Herausford­erungen. Das fordert uns medizinisc­h, aber auch wirtschaft­lich. angekommen. Corona hat uns da aufgerütte­lt, aber das reicht noch nicht.

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