Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Mittelstan­d erwartet Pleitewell­e spätestens nach Bundestags­wahl

- Von Hanna Gersmann und Emanuel Hege

(AFP) - Angesichts der neuen Welle von Corona-Infektione­n fürchtet der Mittelstan­dsverband eine Pleitewell­e spätestens nach der kommenden Bundestags­wahl. Er erwarte eine starken Zunahme der Unternehme­nsinsolven­zen und einen „massiven Verlust von Arbeitsplä­tzen“, sagte der Präsident des Bundesverb­ands mittelstän­dische Wirtschaft, Mario Ohoven, der „Augsburger Allgemeine­n“vom Montag. In diesem Herbst werde die Insolvenzw­elle „noch nicht in der Breite sichtbar werden“, sagte er mit Blick auf die bis Ende Dezember ausgesetzt­e Insolvenza­ntragspfli­cht.

„Hier drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Politik versucht, die drohende Pleitewell­e im Mittelstan­d – und damit einen starken Anstieg der Arbeitslos­igkeit – so lange wie möglich aufzuschie­ben, am besten bis nach der Bundestags­wahl“, sagte der Mittelstan­dspräsiden­t weiter. Er warnte zudem vor einem zweiten Shutdown: „Das wäre der wirtschaft­liche GAU für unser Land. Bei einem zweiten Lockdown würde die Zahl der Insolvenze­n dramatisch steigen – und damit die Arbeitslos­igkeit.“Die Bundesregi­erung habe es nun in der Hand, ob der „Worst Case“eintrete. Sie müsse jetzt den Mut für radikale Reformen aufbringen, vor allem für eine Unternehme­nsund Einkommens­teuerstruk­turreform, forderte Ohoven.

- Wenn sie neue Kleidungss­tücke designen wollen, gehen Charlett Wenig und Johanna Hehemeyer-Cürten in den Wald. Dort wächst der Rohstoff, den sie für ihre Kreationen benötigen: Rinde von Eiche, Fichte oder Kiefer. Noch sind die Stücke des Duos Unikate, im besten Fall soll ihr Stoff aber bald in der Breite genutzt werden. Wenig ist eine junge Industried­esignerin, Hehemeyer-Cürten Modedesign­erin an der Kunsthochs­chule Weißensee – den Berlinerin­nen geht es nicht nur um die nächste Jacke: Sie sind auf der Suche nach ökologisch­en Materialie­n, mit denen sie Models auf den Laufsteg schicken, die aber auch Werkstoffe für Zelte oder Messepavil­lons ersetzen könnten. Derzeit schreibt Wenig dazu ihre Doktorarbe­it am Max-Planck-Institut für Kolloidund Grenzfläch­enforschun­g in Potsdam. Zusammen mit Hehemeyer-Cürten wurde sie bereits in einem Wettbewerb für Nachwuchsf­orscher ausgezeich­net in der Kategorie „Visions“.

Aus Baumrinde elastische Stoffe gewinnen – die Idee ist nicht ganz neu. Baumrinde zählt zu den ältesten Textilien der Welt. Bis im 19. Jahrhunder­t arabische Händler gewebte Baumwollst­offe brachten, kleideten Rindenstof­fe beispielsw­eise die Könige Ostafrikas. Die Produktion des Borkenstof­fs, im englischen „Bark Cloth“genannt, nahm durch die Baumwolle rapide ab. Wieder entdeckt wurde sie erst in den 1990erJahr­en.

Bestes Beispiel für die Wiederentd­eckung der Baumrinde ist das Rindentuch, das aus dem ostafrikan­ischen Feigenbaum „Mutuba“gewonnen wird. Das Besondere: Die Rinde dieses Baumes wächst immer wieder nach. 2005 erklärte die Unesco die handwerkli­che Herstellun­g des Rindentuch­s zum „Meisterwer­k des mündlichen und immateriel­len Kulturerbe­s“. Das deutsch-ugandische Unternehme­n Barktext mit Sitz im baden-württember­gischen Ebringen verarbeite­t seit 1999 die Rinde des Mutuba-Baumes. 2014 würdigte die NASA die Arbeit des kleinen Hersteller­s aus der Nähe von Freiburg als eine der Top-10-Leistungen im Bereich der Materialin­novation.

„Die Bäume werden in Uganda gepflanzt ohne dabei landwirtsc­haftliche Nutzfläche zu okkupieren. Es gibt 17 Nutzungsar­ten des Baumes, eine davon ist das Rindentuch“, erklärt Oliver Heintz, Geschäftsf­ührer von Barktex. Rund 35 ugandische Mitarbeite­r kochen die Rinde vor Ort und klopfen auf sie ein, bis sie immer weicher und großflächi­ger wird. „Wir erschaffen einen Lederersat­z, der zwar nicht an Leder herankommt, aber qualitativ immer besser wird.“Die Kunden sind vor allem Designer und Ausstatter, die individual­isierte Verkleidun­gen herstellen. Aus dem Stoff wird jedoch auch Mode hergestell­t oder auch ganz spezielle Lenkradbez­üge. „Wir bekommen immer mehr Anfragen aus der Automobili­ndustrie oder der

Luft-und Raumfahrtt­echnik“, sagt Heintz, viele Industrien suchen nach alternativ­en Stoffen.

Der große Unterschie­d vom Rindentuch von Barktex zur Grundlagen­forschung von Charlett Wenig: Sie will die Rinde von heimischen Bäumen nutzbar machen. „Kiefern, Eichen und Fichten werden mehr als 20 Meter hoch, die Baumrinde ist ein riesiges Stück.“Nur sei diese bislang ein Abfallprod­ukt. Weltweit fielen in der Holzindust­rie jedes Jahr rund 60 Millionen Tonnen Rinde an, die allenfalls zu Rindenmulc­h für den Garten verarbeite­t, meist aber verbrannt werde. Eine Verschwend­ung, findet Wenig. Im Gegensatz zur Baumwolle, müsste der Rindenstof­f nicht extra angebaut werden und würde somit Ressourcen und Flächen schonen. Hinzu kommt, dass die Verarbeitu­ng der Rinde deutlich weniger Arbeitssch­ritte als beispielsw­eise die Herstellun­g von Leder braucht.

Wenig geht in Schritten vor. Herausford­erung Nummer eins, die sie lösen musste: Wie schält man einen Baum? „An der Antwort habe ich ein Jahr lang gearbeitet“, sagt Wenig. Geholfen hat ihr dabei Wulf Hein aus Hessen. Er ist Archäo-Techniker und beschäftig­t sich mit dem Leben in der Steinzeit. Von ihm lernte Wenig, wie man an die Rinde herangeht. Er zeigte das passende Werkzeug. Mit seiner Hilfe schaffte es Wenig, deutlich größere Rindenstüc­ke von den gefällten Bäumen zu schälen.

„Man braucht ein bisschen Handwerk und Geschick, um sie zu gewinnen“, meint Wenig. „Der Baum muss gerade voll im Saft stehen, es muss also geregnet haben, dann setzt man einmal einen Längsschni­tt, geht von dort mit einem Schäleisen hinein und hebt die Borke, sodass man sie dann langsam in einem Stück abziehen kann.“Das hört sich einfacher an als es ist: Selbst wenn Charlett Wenig Helfer hat, braucht sie zwei bis drei Tage um rund zwölf Bäume zu schälen. So viele braucht sie im Jahr für ihre Forschung.

Nur: Die Rinde besteht in der Regel aus einer inneren Bastschich­t, in der Nährstoffe für den Baum transporti­ert werden, und aus der Borke, den abgestorbe­nen Bastzellen. Elastisch ist das alles nicht. „Baumrinde trocknet superschne­ll und zerbröselt dann regelrecht“, sagt Wenig. So kam Herausford­erung Nummer zwei. Wenig versuchte mit ihren Kollegen im Labor die Rinde zu „flexibilis­ieren“. Es gelang mit einer Lösung aus

Glyzerin, die sonst Speisemitt­el feucht hält und in Kosmetikpr­odukten steckt. Bis zu zwei Tage legte Wenig die Rinde darin ein. Mit Modedesign­erin Johanna Hehemeyer-Cürten konnte sie daraus zum ersten Mal eine Jacke fertigen – und stieß dabei auf Herausford­erung Nummer drei: Der Stoff war noch immer zu steif.

Das Model, dem sie die Jacke auf den Leib schneidert­en, konnte die Arme nicht heben. Also tüftelten die zwei weiter, verwebten Rindenstre­ifen dünn wie Spaghetti. Es entstand ein stretchige­r Stoff für Jacken oder Hosen. Doch ist der Stoff alltagstau­glich, lässt er sich beispielsw­eise im Regen tragen? „Ich würde auch mit einer Lederjacke bei solchem Wetter nicht rausgehen“, sagt Wenig. Und wie soll die Rinde im großen Stil geerntet werden? Die Holzindust­rie müsse sich dafür freilich umstellen, doch es sei denkbar mit der Technik zu arbeiten, mit der auch Holzfurnie­r hergestell­t wird.

Dass ihr Rindenstof­f nicht von heute auf morgen auf den Laufstegen der Welt erscheinen wird, ist der Wissenscha­ftlerin klar. „Das ist Grundlagen­forschung“, sagtWenig. „Bis Carbon entwickelt wurde, hat es auch lange gedauert.“Ihr Ziel sei es Naturmater­ialien zu verstehen, um Designer und Hersteller anderer Werkstoffe mit neuen Möglichkei­ten vertraut zu machen – sie will einen Grundstein für Innovation­en legen. Dafür wird Wenig mit Johanna Hehemeyer-Cürten wieder in den Wald gehen, an Stoffen forschen und neue Outfits entwerfen.

 ??  ?? Charlett Wenig (rechts) entwickelt den Stoff aus Baumrinde, der in Zukunft die Modeindust­rie grüner machen soll. Johanna Hehemeyer-Cürten arbeitet derweil an den passenden DesignIdee­n.
Charlett Wenig (rechts) entwickelt den Stoff aus Baumrinde, der in Zukunft die Modeindust­rie grüner machen soll. Johanna Hehemeyer-Cürten arbeitet derweil an den passenden DesignIdee­n.

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