Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Mittelstand erwartet Pleitewelle spätestens nach Bundestagswahl
(AFP) - Angesichts der neuen Welle von Corona-Infektionen fürchtet der Mittelstandsverband eine Pleitewelle spätestens nach der kommenden Bundestagswahl. Er erwarte eine starken Zunahme der Unternehmensinsolvenzen und einen „massiven Verlust von Arbeitsplätzen“, sagte der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, der „Augsburger Allgemeinen“vom Montag. In diesem Herbst werde die Insolvenzwelle „noch nicht in der Breite sichtbar werden“, sagte er mit Blick auf die bis Ende Dezember ausgesetzte Insolvenzantragspflicht.
„Hier drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Politik versucht, die drohende Pleitewelle im Mittelstand – und damit einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit – so lange wie möglich aufzuschieben, am besten bis nach der Bundestagswahl“, sagte der Mittelstandspräsident weiter. Er warnte zudem vor einem zweiten Shutdown: „Das wäre der wirtschaftliche GAU für unser Land. Bei einem zweiten Lockdown würde die Zahl der Insolvenzen dramatisch steigen – und damit die Arbeitslosigkeit.“Die Bundesregierung habe es nun in der Hand, ob der „Worst Case“eintrete. Sie müsse jetzt den Mut für radikale Reformen aufbringen, vor allem für eine Unternehmensund Einkommensteuerstrukturreform, forderte Ohoven.
- Wenn sie neue Kleidungsstücke designen wollen, gehen Charlett Wenig und Johanna Hehemeyer-Cürten in den Wald. Dort wächst der Rohstoff, den sie für ihre Kreationen benötigen: Rinde von Eiche, Fichte oder Kiefer. Noch sind die Stücke des Duos Unikate, im besten Fall soll ihr Stoff aber bald in der Breite genutzt werden. Wenig ist eine junge Industriedesignerin, Hehemeyer-Cürten Modedesignerin an der Kunsthochschule Weißensee – den Berlinerinnen geht es nicht nur um die nächste Jacke: Sie sind auf der Suche nach ökologischen Materialien, mit denen sie Models auf den Laufsteg schicken, die aber auch Werkstoffe für Zelte oder Messepavillons ersetzen könnten. Derzeit schreibt Wenig dazu ihre Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Kolloidund Grenzflächenforschung in Potsdam. Zusammen mit Hehemeyer-Cürten wurde sie bereits in einem Wettbewerb für Nachwuchsforscher ausgezeichnet in der Kategorie „Visions“.
Aus Baumrinde elastische Stoffe gewinnen – die Idee ist nicht ganz neu. Baumrinde zählt zu den ältesten Textilien der Welt. Bis im 19. Jahrhundert arabische Händler gewebte Baumwollstoffe brachten, kleideten Rindenstoffe beispielsweise die Könige Ostafrikas. Die Produktion des Borkenstoffs, im englischen „Bark Cloth“genannt, nahm durch die Baumwolle rapide ab. Wieder entdeckt wurde sie erst in den 1990erJahren.
Bestes Beispiel für die Wiederentdeckung der Baumrinde ist das Rindentuch, das aus dem ostafrikanischen Feigenbaum „Mutuba“gewonnen wird. Das Besondere: Die Rinde dieses Baumes wächst immer wieder nach. 2005 erklärte die Unesco die handwerkliche Herstellung des Rindentuchs zum „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Kulturerbes“. Das deutsch-ugandische Unternehmen Barktext mit Sitz im baden-württembergischen Ebringen verarbeitet seit 1999 die Rinde des Mutuba-Baumes. 2014 würdigte die NASA die Arbeit des kleinen Herstellers aus der Nähe von Freiburg als eine der Top-10-Leistungen im Bereich der Materialinnovation.
„Die Bäume werden in Uganda gepflanzt ohne dabei landwirtschaftliche Nutzfläche zu okkupieren. Es gibt 17 Nutzungsarten des Baumes, eine davon ist das Rindentuch“, erklärt Oliver Heintz, Geschäftsführer von Barktex. Rund 35 ugandische Mitarbeiter kochen die Rinde vor Ort und klopfen auf sie ein, bis sie immer weicher und großflächiger wird. „Wir erschaffen einen Lederersatz, der zwar nicht an Leder herankommt, aber qualitativ immer besser wird.“Die Kunden sind vor allem Designer und Ausstatter, die individualisierte Verkleidungen herstellen. Aus dem Stoff wird jedoch auch Mode hergestellt oder auch ganz spezielle Lenkradbezüge. „Wir bekommen immer mehr Anfragen aus der Automobilindustrie oder der
Luft-und Raumfahrttechnik“, sagt Heintz, viele Industrien suchen nach alternativen Stoffen.
Der große Unterschied vom Rindentuch von Barktex zur Grundlagenforschung von Charlett Wenig: Sie will die Rinde von heimischen Bäumen nutzbar machen. „Kiefern, Eichen und Fichten werden mehr als 20 Meter hoch, die Baumrinde ist ein riesiges Stück.“Nur sei diese bislang ein Abfallprodukt. Weltweit fielen in der Holzindustrie jedes Jahr rund 60 Millionen Tonnen Rinde an, die allenfalls zu Rindenmulch für den Garten verarbeitet, meist aber verbrannt werde. Eine Verschwendung, findet Wenig. Im Gegensatz zur Baumwolle, müsste der Rindenstoff nicht extra angebaut werden und würde somit Ressourcen und Flächen schonen. Hinzu kommt, dass die Verarbeitung der Rinde deutlich weniger Arbeitsschritte als beispielsweise die Herstellung von Leder braucht.
Wenig geht in Schritten vor. Herausforderung Nummer eins, die sie lösen musste: Wie schält man einen Baum? „An der Antwort habe ich ein Jahr lang gearbeitet“, sagt Wenig. Geholfen hat ihr dabei Wulf Hein aus Hessen. Er ist Archäo-Techniker und beschäftigt sich mit dem Leben in der Steinzeit. Von ihm lernte Wenig, wie man an die Rinde herangeht. Er zeigte das passende Werkzeug. Mit seiner Hilfe schaffte es Wenig, deutlich größere Rindenstücke von den gefällten Bäumen zu schälen.
„Man braucht ein bisschen Handwerk und Geschick, um sie zu gewinnen“, meint Wenig. „Der Baum muss gerade voll im Saft stehen, es muss also geregnet haben, dann setzt man einmal einen Längsschnitt, geht von dort mit einem Schäleisen hinein und hebt die Borke, sodass man sie dann langsam in einem Stück abziehen kann.“Das hört sich einfacher an als es ist: Selbst wenn Charlett Wenig Helfer hat, braucht sie zwei bis drei Tage um rund zwölf Bäume zu schälen. So viele braucht sie im Jahr für ihre Forschung.
Nur: Die Rinde besteht in der Regel aus einer inneren Bastschicht, in der Nährstoffe für den Baum transportiert werden, und aus der Borke, den abgestorbenen Bastzellen. Elastisch ist das alles nicht. „Baumrinde trocknet superschnell und zerbröselt dann regelrecht“, sagt Wenig. So kam Herausforderung Nummer zwei. Wenig versuchte mit ihren Kollegen im Labor die Rinde zu „flexibilisieren“. Es gelang mit einer Lösung aus
Glyzerin, die sonst Speisemittel feucht hält und in Kosmetikprodukten steckt. Bis zu zwei Tage legte Wenig die Rinde darin ein. Mit Modedesignerin Johanna Hehemeyer-Cürten konnte sie daraus zum ersten Mal eine Jacke fertigen – und stieß dabei auf Herausforderung Nummer drei: Der Stoff war noch immer zu steif.
Das Model, dem sie die Jacke auf den Leib schneiderten, konnte die Arme nicht heben. Also tüftelten die zwei weiter, verwebten Rindenstreifen dünn wie Spaghetti. Es entstand ein stretchiger Stoff für Jacken oder Hosen. Doch ist der Stoff alltagstauglich, lässt er sich beispielsweise im Regen tragen? „Ich würde auch mit einer Lederjacke bei solchem Wetter nicht rausgehen“, sagt Wenig. Und wie soll die Rinde im großen Stil geerntet werden? Die Holzindustrie müsse sich dafür freilich umstellen, doch es sei denkbar mit der Technik zu arbeiten, mit der auch Holzfurnier hergestellt wird.
Dass ihr Rindenstoff nicht von heute auf morgen auf den Laufstegen der Welt erscheinen wird, ist der Wissenschaftlerin klar. „Das ist Grundlagenforschung“, sagtWenig. „Bis Carbon entwickelt wurde, hat es auch lange gedauert.“Ihr Ziel sei es Naturmaterialien zu verstehen, um Designer und Hersteller anderer Werkstoffe mit neuen Möglichkeiten vertraut zu machen – sie will einen Grundstein für Innovationen legen. Dafür wird Wenig mit Johanna Hehemeyer-Cürten wieder in den Wald gehen, an Stoffen forschen und neue Outfits entwerfen.