Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Ansteckend­e Sorglosigk­eit

Die Schweiz hat sich binnen weniger Wochen zu einem internatio­nalen Brennpunkt der Corona-Pandemie entwickelt

- Von Jan Dirk Herbermann

BERN - Aus dem Pralinenge­schäft weht süßer Duft in die Bahnhofspa­ssage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Männer und Frauen, tief unter der Berner Innenstadt. Zwei der Schokolade­nliebhaber tragen keine Maske. „Die Leute lassen sich durch Corona nicht die Lust auf unsere Leckereien verderben“, sagt die Verkäuferi­n und packt Pralinen ab.

Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienisc­hen Café, flitzen Kellnerinn­en zwischen gut besetzten Tischen hin und her. An diesem kalten Tag im frühen November 2020 tummeln sich die Menschen auch oberhalb der Passage: Die Berner Altstadt ist voll, rund um den Käfigturm, in den pittoreske­n Gassen und in etlichen Geschäften und Bistros kommen sich Passanten und Gäste nahe. Gefährlich nahe.

Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmung­en der Schweizer Regierung einen Mundund Nasenschut­z überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Selbst in der Schweizer Bundesstad­t hält sich nicht jeder an die landesweit geltende Maskenpfli­cht für Läden, Gastronomi­ebetriebe und „belebte Fußgängerb­ereiche“.

Nötig wäre das schon. Denn die Eidgenosse­nschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internatio­nalen Brennpunkt der CoronaPand­emie entwickelt. „Es ist fünf vor zwölf“, rief Bundespräs­identin Simonetta Sommaruga bereits Mitte Oktober ihren Landsleute­n zu. Kurz darauf schrieb die Redaktion von Tamedia über die Fallzahlen in der Schweiz: „Das Tempo ist fast Weltspitze.“

In der ersten Woche des Novembers meldete das Bundesamt für Gesundheit mehrmals täglich über 10 000 bestätigte Corona-Neuinfekti­onen. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das einen alarmieren­den Wert. Zum Vergleich: In Deutschlan­d leben rund zehnmal mehr Menschen als in Helvetien. Doch kommt die Bundesrepu­blik nur auf Werte, die, grob gerechnet, etwa zweimal so hoch ausfallen als die Schweizer Zahlen.

Auch im Corona-Vergleich mit anderen EU-Ländern schneidet die Schweiz schlecht ab. Und weiter: Seit Beginn des Corona-Ausbruchs in der Eidgenosse­nschaft im Februar steckten sich nachweisli­ch mehr als 235 000 Menschen an, Stand 10.

November. Davon entfielen 100 000 Fälle allein auf die 14 Tage ab dem 26. Oktober.

Ebenso wanken andere Abschnitte der helvetisch­en CoronaFron­t: Testkapazi­täten werden knapp, die Intensivst­ationen füllen sich, die Zahl der erfassten Todesfälle betrug zuletzt schockiere­nde 107 innerhalb eines Tages. Zwar sanken in dieser Woche ab dem 9. November die erfassten Neuinfekti­onen wieder in den vierstelli­gen Bereich. Doch Gesundheit­sminister Alain Berset muss gestehen: „Die Lage bleibt ernst.“

Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versichert­e: „Wir können Corona.“Im Juni registrier­te die Regierung, der Bundesrat, nur noch vereinzelt­e Ansteckung­en. Das Kabinett hob die scharfen Restriktio­nen des ersten Lockdowns schrittwei­se auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt.

Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwort­ung für die eskalieren­de Krise? Wie kann die reiche, durchorgan­isierte Schweiz mit einem internatio­nal herausrage­nden Gesundheit­ssystem so scheitern?

Die Antworten reichen vom Politikver­sagen über den berüchtigt­en Kantönlige­ist bis zu den sinkenden Temperatur­en. Und: Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckend­e Sorglosigk­eit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröh­liche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleuni­gten die Corona-Ausbreitun­g.

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkuliert­e das Virus, viele Besucher infizierte­n sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzelle­r Gemeinde Schwellbru­nn feierten Gäste, die Covid-19Symptome aufwiesen. „Das macht mich traurig, entsetzt und wütend“, konnte Schwellbru­nns Gemeindepr­äsident Ueli Frischknec­ht nur noch hervorbrin­gen. Auch die behutsamen Schwestern des Klosters Cazis in Graubünden waren vor dem Virus nicht gefeit. Anfang November meldete die Priorin von Cazis, dass mehr als ein Dutzend der Dominikane­rinnen erkrankt seien.

Als weiterer natürliche­r Faktor kommen sinkende Temperatur­en ins Spiel: Der Epidemiolo­ge Matthias

Egger bestätigt der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräume­n aufhalten, haben wir eine exponentie­lle Ausbreitun­g ähnlich wie Anfang März.“

Vor allem aber zeigen die Schweizer Politiker nicht immer den nötigen Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastische­r als die Schweiz. Der Epidemiolo­ge Christian Althaus beklagt „das politische Totalversa­gen der Schweiz“. Keine Verantwort­lichkeiten seien auf irgendeine­r Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer „COVID-19 Science Task Force“sitzt.

Zumal das kleinteili­ge föderale System der Schweiz ein erfolgreic­hes Krisenmana­gement behindert: Im Juni gab der Bundesrat die „Hauptveran­twortung“für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvor­gaben an.

Jeder Kanton ist befugt, darüber hinauszuge­hen. Jedoch kann von einer abgestimmt­en Strategie der stolzen Gliedstaat­en nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseursal­ons geschlosse­n. Im benachbart­en Kanton Waadt dürfen die Figaros weiter ihre Kunden bedienen. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnit­t in die Waadt. Und Genfer Frisöre helfen in der Waadt aus.

Ebenso läuft auf Bundeseben­e einiges schief. Beispiel Maskenpfli­cht. Während des gesamten ersten Lockdowns wollte der Bundesrat von einem obligatori­schen Tragen des Mund- und Nasenschut­zes nichts wissen. Erst Anfang Juli führte die Regierung die Maskenpfli­cht im öffentlich­en Verkehr ein. Es dauerte mehr als zwei Monate, bis das Kabinett die Maskenvero­rdnung verschärft­e und sie auch für Läden und Fußgängerz­onen anordnete.

Beispiel Großverans­taltungen. Der Bundesrat verbot Ende Februar 2020 Events mit mehr als 1000 Personen. Im August, die Infektione­n gingen langsam wieder nach oben, warnte der Chef der Covid-19-Task-Force, Martin Ackermann: „Bewilligun­gen von Großverans­taltungen

liegen in dieser heiklen Situation nicht drin.“

Anfang September, als Befürchtun­gen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: „Das Verbot für Großverans­taltungen mit über 1000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben.“Fußball- und Eishockeyv­ereine mit Profiteams hatten dafür getrommelt. Wie stark die 1000-Plus-Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar. In jedem Fall breitete sich im Oktober das Coronaviru­s rasant aus.

Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück. Er untersagte in der gesamten Schweiz die Großevents mit mehr als 1000 Menschen. Jetzt gilt eine Obergrenze von 50 Personen für Veranstalt­ungen. Gesundheit­sminister Berset nennt diesen Zickzackku­rs einen „Mittelweg“. Und er gibt freimütig zu: „Wir haben keine Garantie, dass dieser Weg funktionie­rt.“

Auch die vielen Scharmütze­l zwischen dem Bundesrat und den Kantonen bremsen einen erfolgreic­hen Kampf gegen Corona. So ermahnt Gesundheit­sminister Berset die Gliedstaat­en, nich notwendige Operatione­n und Behandlung­en zu verschiebe­n. Dadurch will er Intensivbe­tten für Covid-19Patiente­n freihalten. „Es gibt Kantone, die noch immer Vollprogra­mm an Wahleingri­ffen fahren“, ärgert sich Berset. Tatsächlic­h werden die Intensivbe­tten immer knapper.

Beim Personal wird es ebenso eng. „Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattun­g fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepers­onal, das am Bett dieser Patienten stehen muss“, erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee gemäß Tamedia. Fachleute der Streitkräf­te berechnen derzeit die Kapazitäte­n in den Krankenhäu­sern für die Schweizer Regierung; angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheit­swesen einspringe­n. Doch selbst die Mobilisier­ung der bis zu 2500 helvetisch­en Soldaten bringt keine anhaltende Entspannun­g – denn die Uniformier­ten können kaum als Intensivpf­leger eingesetzt werden.

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FOTO: FABRICE COFFRINI In der Halle und dicht gedrängt: Im Oktober waren Fans bei Schweizer Eishockeys­pielen erlaubt. Die Regel wurde mittlerwei­le gekippt.
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FOTO: PETER KLAUNZER Im Frühjahr versichert­e Gesundheit­sminister Alain Berset noch: „Wir können Corona.“
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FOTO: SALVATORE DI NOLFI Trotz schnell steigender Infektions­zahlen zieht es die Schweizer immer noch in die Städte, Restaurant­s und Geschäfte.

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