Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Es darf nicht mehr Druck als Entlastung entstehen“
Brigitte Hepp und Carla Bühler sprechen über die Veränderungen des Ehe- und Familienlebens
- Mit dem Wandel der Gesellschaft gehen auch Veränderungen im Ehe- und Familienleben einher. Brigitte Hepp, Diplom Ehe-, Familien- und Lebensberaterin sowie Leiterin der Ehe-, Familienund Lebensberatung Sigmaringen und ihre Kollegin Carla Bühler, Psychologin und systemische Therapeutin, haben mit SZ-Redakteur Lukas M. Heger über die Veränderungen des Ehe- und Familienlebens im Kreis Sigmaringen gesprochen
Was hat sich in der Familienstruktur in den vergangenen Jahren geändert?
Bühler: Der Anteil der PatchworkFamilien in unserer Gesellschaft hat zugenommen. Es gibt nicht mehr nur einfach die klassische Familie mit einem oder mehreren Kindern. Inzwischen sind die Familien viel mehr zusammengewürfelt aus Stiefkindern, Stiefeltern, gemeinsamen Kindern oder neuen Partnern. Mittlerweile herrscht mehr Diversität. Es kommt auch immer wieder vor, dass Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte beschließen, eine neue Familie zu gründen.
Gibt es ein typisches Problem, das Familien haben?
Hepp: Ich bemerke bei meinen Beratungsgesprächen, dass der Stress in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Gerade bei jungen Familien mit kleinen Kindern. Heute ist alles auf Kante genäht, es muss alles schnell gehen und daraus resultierend lastet ein hoher Druck auf den Familien. Häufig ist es inzwischen auch so, dass Familie und Großeltern nicht mehr an einem Ort wohnen und man so keine Entlastung mehr erfährt.
Bühler: Es gab während der vergangenen Jahrzehnte markante VeränStreit derungen in unserer Gesellschaft. Beispielsweise der rasch vorangetriebene Ausbau der Krippen. Dadurch sind viele Mütter früher berufstätig geworden, gerade Frauen mit Kindern unter drei Jahren haben verstärkt wieder anfangen zu arbeiten. Dennoch zeigt sich nicht, dass Väter vermehrt in die Elternzeit gegangen sind. Heißt, die Mütter müssen Kinderbetreuung, Haushalt und Beruf unter einen Hut bekommen. Dass der Stress auf der Paar-Ebene zugenommen hat, das zeigen auch unsere Statistiken. Wir erfassen auch die Beratungsanlässe und bei keinem Anlass sind so deutliche Veränderungen sichtbar wie bei dysfunktionaler Interaktion/Kommunikation. Das ist ein Merkmal dafür, dass es oft zu
und Konflikten kommt und diese nicht mehr auf konstruktiver Art gelöst werden – was eine hohe Stressbelastung mit sich bringt. Wer unter Stress leidet, der kann keine gute Paarbeziehung führen.
Zeichnet sich eine Veränderung in der Rollenverteilung ab? Hepp: Eine langsame Veränderung, ja. Das hängt auch mit der Frage zusammen: Was haben wir für Rollenvorbilder? Früher war es noch gewöhnlich, dass die Frau daheim bleibt. Heute gibt es eine andere gesellschaftliche Erwartung. Dennoch entsteht teilweise aus der Frage auch Druck. Einerseits bei den Frauen, die sich wünschen, dass sich etwas verändert und auf der anderen Seite bei
Männern, die sich gezwungen fühlen, etwas zu tun. Hier braucht es in den kommenden Jahren noch Veränderung. Gerade in der Arbeitswelt. Also dass auch junge Väter und Mütter problemlos in Elternzeit gehen könnten in einer Phase, in der die volle Leistung nicht im Betrieb sondern Zuhause gebraucht wird.
Bühler: Meistens gibt es die Veränderung mit der Geburt des ersten Kindes, davor sind die Rollen in der Regel ausgeglichen. Denn mit dem Kind kommt eine neue Aufgabenverteilung und da fallen die Paare dann oft wieder in alte Klischees zurück.
Verändert sich mit der Gesellschaft auch die Akzeptanz einer Scheidung?
Hepp: Ja, durchaus. Trennung und Scheidung kommen häufiger vor und werden sozusagen normaler. Wobei das für die Beteiligten überhaupt nicht normal ist und emotionale und existentielle Krisen auslöst. Bühler: Früher wurde dieses Thema mehr tabuisiert als heute. Eine Scheidung war vielleicht finanziell oder gesellschaftlich nicht möglich, zudem gab es einen anderen gesetzlichen Rahmen. Bis 1977 musste beispielsweise vor Gericht bewiesen werden, dass eine Ehe zerrüttet ist und wer schuld daran ist. Damals haben sich Paare eher mit der Situation arrangiert. Heute wird in Partnerschaften mehr darüber diskutiert und schließlich die Trennung als letzter Schritt in Erwägung gezogen. Hepp: Es ist zu bemerken, dass sich Paare schon im sechsten oder siebten Jahr wieder scheiden lassen. Und dann gibt es noch einen zweiten Scheidungsgipfel, wenn die Kinder aus dem Haus sind, nach 25 oder 30 Jahren Ehe.
Mit welchen Problemen haben Familien in Zukunft zu kämpfen? Hepp: Mit dem mobilen Arbeiten kommen auf Familien sicher auch neue Möglichkeiten zu. Aber es wird Familien auch Mühe machen, da es eine Vermischung aus Familie und Beruf ist. Hier entsteht die Herausforderung sich abzugrenzen. Es darf durch diese Situation nicht mehr Druck als Entlastung entstehen. Bühler: Aber nicht nur im Beruf, auch in der Freizeit lauern Gefahren. Junge Eltern sind viel stärker durch Bilder auf sozialen Netzwerken geprägt als frühere Generationen. Das sind Bilder und Inszenierungen der perfekten Familie und problemlosen Organisation des Lebens, die Druck erzeugen können.