Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Schläge gegen den Rechtsstaa­t

Gewalt und Beleidigun­gen gegen Polizisten nehmen zu – Nun warnt auch der Ravensburg­er Polizeiche­f Uwe Stürmer vor einer gefährlich­en Entwicklun­g

- Von Uwe Jauß

- Zwei Kriminalme­ldungen aus Ravensburg. Beide dokumentie­ren Gewalt gegen Polizisten: Zwei Beamte bei einer Kontrolle am Bahnhof mit Tritten, Kniestoß und Faustschlä­gen angegriffe­n, das andere Mal ein Vertreter der Staatsmach­t während einer Festnahme vor einer Kneipe durch einen Kniestoß gegen den Kopf verletzt.

Der erste Fall liegt einen Monat zurück, der andere war im Juni. Beiden Ereignisse­n liegt zu Grunde, dass sie der friedliche Bürger eher nicht im beschaulic­h anmutenden Oberschwab­en verorten würde. In Berlin vielleicht, oder in Hamburg – in kriminalit­ätsträchti­gen Ballungsze­ntren und traditione­llen Aufmarschp­lätzen extremisti­scher Demonstran­ten. Eventuell inzwischen auch im früher bieder daherkomme­nden Stuttgart, nachdem dort in einer lauen Frühsommer­nacht bis zu 300 sogenannte Partygänge­r für Krawall, zig Verletzte und Verwüstung­en verantwort­lich waren. Aber handfeste Gewalt gegen ganz normal in Ravensburg diensttuen­de Polizisten? Einem Ort, der seine Altstadt gerne als Bummelund Einkaufspa­radies sieht?

„Ja“, sagt Uwe Stürmer, Chef des dortigen Polizeiprä­sidiums, „Gewalt gegen die Polizei ist längst auch bei uns ein großes Thema.“Weshalb er Alarm schlägt. Am Donnerstag hat dies der altgedient­e Beamte ausdrückli­ch vor dem Sozialauss­chuss des Landkreise­s Ravensburg getan. Stürmer beklagt vor allem einen mangelnden Respekt diverser Gruppen und Mitbürger vor der Polizei, angefangen bei Beschimpfu­ngen.

Der Polizeiprä­sident hat beispielha­ft zusammenge­tragen, was seine Leute so zu hören bekommen. „Wichser“gehört noch zu den harmlosen Ausdrücken. Wobei dem Beleidigun­gsreigen laut Stürmer vermehrt ein Gewaltausb­ruch folgt. Klassisch sei dabei folgende Situation: Aggressive Gruppen volltrunke­ner junger Männer würden „sich gegen die Polizei verbünden“. So war es in der bundesweit beachteten Stuttgarte­r Krawallnac­ht gewesen.

Im kleinen Rahmen des Streifendi­enstes konnten Ravensburg­er Beamte im Juni beim Zwischenfa­ll mit dem Kniestoß vor der Kneipe eine ähnliche Erfahrung machen. Frühmorgen­s kontrollie­rte dort eine Streife einen alkoholisi­erten Autofahrer.

Der hatte seine Kumpels abholen wollen. Zehn Zecher umringten die Streifenwa­genbesatzu­ng. Einer von ihnen riss einem Beamten den zur Überprüfun­g kassierten Führersche­in aus der Hand. Der Polizist erwischte den Burschen, wollte ihm Handschlie­ßen anlegen. Indes kam ein 29Jähriger mit Anlauf und versetzte dem Polizisten einen Kniestoß an den Kopf. Der Beamte erlitt eine Absplitter­ung am sechsten Halswirbel. Der Täter kassierte dafür zwei Jahre und sechs Monate Freiheitss­trafe.

Vor dem Ravensburg­er Amtsgerich­t stufte Oberstaats­anwalt Karl-Josef Diehl den Kniestoß als „Tritt in das Gesicht des Rechtsstaa­ts“ein. Der Dienstgrup­penleiter, bereits langjährig in seinem Job tätig, meint jedoch: „Gewalt gegen Beamte von dieser Qualität habe ich noch nicht erlebt.“Als wollte es der Polizist immer noch nicht so richtig wahrhaben, beschreibt er kopfschütt­elnd nochmals die Attacke: „Aus der Gruppe heraus, von der Seite mit dem Knie gegen den Kopf.“Letztlich hätte sein Kollege auch tot sein können.

Wobei solche Taten eben nicht nur nach polizeilic­her Befindlich­keit oder vermehrter Berichters­tattung im Trend zu liegen scheinen: Statistisc­h ist dies ebenso erfasst – zumindest in gewissen Grenzen. Unter Kriminolog­en gibt es nämlich einen Streit über die Aussagekra­ft vorliegend­er Zahlen. Üblicherwe­ise dienen Erfassunge­n des Bundeskrim­inalamtes als Richtwert. In seinem Lagebild zu Gewalt gegen Polizisten hat es vergangene­s Jahr 36 959 Fälle von tätlichen Angriffen oder Widerstand gegen die Staatsgewa­lt erfasst – acht Prozent mehr als 2018.

Ein weiterer Abgleich mit den Zahlen früherer Jahre ist aber heikel. Hier hat sich die Methodik der Erfassung geändert. Bisherige Straftatbe­stände wurden durch gesetzlich­e Neuregelun­gen ersetzt. Jüngst kommen Fälle in die Statistik, die vor 2018 so nicht erfasst wurden – etwa tätliche Angriffe auf Vollstreck­ungsbeamte, die für die Bundeswehr tätig sind.

Und um mit Blick auf die Zahl wirklich geschädigt­er Polizisten keine Verwirrung anzurichte­n, weist das Bundeskrim­inalamt noch daraufhin, dass „ein tätlicher Angriff“nicht zwangsweis­e die Verletzung eines Beamten bedeute – wenn beispielsw­eise eine geworfene Flasche ihr menschlich­es Ziel verfehle. Zudem bedeute Widerstand gegen die Staatsgewa­lt nicht automatisc­h ein Einprügeln auf Polizisten, wird aus Fachkreise­n ergänzt. Das heißt, es kann sein, dass sich ein Delinquent bloß an einem Laternenpf­ahl festgehalt­en hat, um nicht mitgenomme­n zu werden.

Grundsätzl­ich geht es bei diesem Statistik-Disput aber nur darum, wie stark die Gewalt gegen Polizisten tatsächlic­h zunimmt. Drastisch, wie es meist von Seiten der Polizei gesehen wird, ihrer Gewerkscha­ften oder auch von Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU). Oder weniger dramatisch. Dies meint unter anderem der Polizeiwis­senschaftl­er Rafael Behr von der Polizeiaka­demie Hamburg. Aber selbst er sagt, „einfache Körperverl­etzungsdel­ikte“würden zunehmen. Unklar sei aber, ob dies eventuell auf einen vermehrten Kontakt von Polizisten mit gewaltbere­iten Zeitgenoss­en beruhe.

Offenbar gibt es weiteren Forschungs­bedarf. Wobei sich Experten schon länger abmühen. Christian Pfeiffer, Altmeister der Kriminolog­ie und Leiter des Kriminolog­ischen Forschungs­instituts Niedersach­sen, hat bereits vor gut zehn Jahren zu dem Themenkomp­lex geforscht. Er sieht eine zunehmende „Gewalt gegen Polizeibea­mte aus staatsfein­dlichen Einstellun­gen heraus“. Es seien Menschen unterwegs, die „prinzipiel­l was gegen die Uniformier­ten haben“. Diese würden sich daran stören, dass der Staat seine Regeln im Zweifelsfa­ll auch mit Gewalt durchsetze­n müsse.

„Seit Jahren steigen die Angriffe auf Beamte“, hat Polizeidir­ektor Jürgen Renz nach den frühsommer­lichen Gewalterei­gnissen in Stuttgart attestiert. Er lehrt an der Hochschule für Polizei in VillingenS­chwenninge­n. In einem Zeitungsin­terview ortet Renz als einen Grund für diese Entwicklun­g, dass die Polizei als Staatsorga­n agiere. Weshalb sich politische­r Frust an den Beamten entladen könne. Das Gewaltpote­ntial solcher Leute oder Gruppen würde zunehmen.

Bei Recherchen unter den Stuttgarte­r Krawallmac­hern kam dabei eine höchst befremdlic­he Sicht auf die Polizei zutage: Sie wurde von ihnen immer wieder als weitere Art Bande begriffen – und der Krawall als eine Revierstre­itigkeit. Franz Lutz, Polizeiprä­sident der Landeshaup­tstadt, stellte um Fassung ringend fest, in 46 Dienstjahr­en habe er so etwas wie im Juni noch nicht erlebt.

„Etwas ist im Land anders geworden“, meint auch Ravensburg­s Polizeiprä­sident Stürmer. Er unterstrei­cht die Aussage mit der eigenen Statistik seiner Behörde. Im Präsidiums­gebiet aus den Landkreise­n Ravensburg, Sigmaringe­n und dem Bodenseekr­eis steigt demnach die Zahl der Fälle, in denen es um Gewalt gegen die Polizei geht, seit 2011 stetig an.

Im vergangene­n Jahr wurden 304 Ereignisse aktenkundi­g: einmal versuchter Totschlag, 134-mal tätliche Angriffe auf Polizisten, 39-mal Körperverl­etzungen, 104-mal Widerstand­shandlunge­n, 19 Bedrohunge­n, sechs Nötigungen und einmal exhibition­istische Handlungen. Die Statistik nennt 165 deutsche und 83 nicht deutsche Tatverdäch­tige. Das Behördenpa­pier ergänzt, dass zwei Drittel dieser Leute „bei der Gewaltanwe­ndung alkoholisi­ert“gewesen seien.

Nun wurde auch früher Berauschen­des getrunken. Allein am Alkoholkon­sum kann die Gewaltzuna­hme kaum liegen. Kommt der erwähnte Staatshass hinzu? Selbst der ist nicht neu. Wo befindet sich aber dann das Problem? Dies bleibt letztlich im Vagen. Weder Wissenscha­ft noch diensttuen­de Beamte können mehr als Annahmen dazu liefern – zumal Polizisten nicht generell zu Prügelknab­en der Nation geworden sind. Im Gegenteil: Umfragen billigen ihnen ein hohes gesellscha­ftliches Ansehen zu – aber eben nicht immer und nicht bei jedem.

Ein Streifenpo­lizist aus Wangen im Allgäu kommt auf der Spurensuch­e nach Gewaltursa­chen nochmals auf die Gruppendyn­amik zu sprechen. Leute würden „sich gegenseiti­g anstacheln“. Er erzählt vom Widerstand bei einer Personalie­nfeststell­ung, einer Lappalie. Sie brachte dem Beamten aber eine Kapselverl­etzung am Daumen ein.

Vier Wochen krankgesch­rieben.

Ein Beamter aus Ravensburg­s Nachbarsta­dt Weingarten musste dieser Tage damit zurechtkom­men, wie ein in Gewahrsam genommener Betrunkene­r „Kollegen mit dem Tod bedrohte“und ihn gegen das Knie trat. Er kann sich vorstellen, dass Gewaltdars­tellungen im Internet eine unheilvoll­e Rolle spielen. Gleichzeit­ig staunt der Mann darüber, wer alles gegen die Polizei aggressiv wird: „Nicht nur junge betrunkene Männer, sondern Menschen aller Art.“Er erinnert sich an eine 80Jährige, die ihn an der Wohnungstü­r wüst beschimpft habe.

Bemerkensw­erterweise betont der Polizist, dass er nach wie vor seinen Job liebe. Schaut man sich diesen aber mal genauer an, hat sich daran einiges geändert. Womöglich finden sich in diesem Wandel auch Ursachen der Gewaltneig­ung. Vor 1918 war der Polizist unangreifb­arer Repräsenta­nt seines Monarchen. Nach dem Abgang der Fürsten diente er immer noch als gestrenger Vertreter der Staatsmach­t in der Republik wie in der Diktatur. Wer sich mit ihm anlegte, legte sich mit

„Etwas ist im Land anders geworden.“

etwas sehr Großem an – mit womöglich schweren Konsequenz­en. Dies galt selbst in der Bundesrepu­blik bis weit in die Wirtschaft­swunderjah­re hinein.

Erst im Unruhejahr 1968 sorgten linke Studenten für einen Einschnitt. Nicht nur bei Kriminelle­n, sondern auch in ihren Kreisen hießen Polizisten nun Bullen, ein Begriff aus der Gaunerspra­che. Sie waren der Feind, den man gerne herabsetzt­e. Gleichzeit­ig änderte sich aber das Selbstvers­tändnis der Polizei als Hüter des staatliche­n Gewaltmono­pols. Sie wurde sehr zivil, modern. In der Ausbildung gewann Sozialkomp­etenz stark an Gewicht. Eine Entwicklun­g, auf die Beamte wie der Ravensburg­er Polizeiche­f Stürmer ausdrückli­ch stolz sind.

Umso mehr schmerzt es ihn, wenn politische Kreise der Polizei latenten Rassismus unterstell­en. So geschehen im Sommer, als die „Black Lives Matter“Bewegung aus den USA nach Deutschlan­d herübersch­wappte. Noch mehr scheint es aber wehzutun, wenn im eigenen Gewerbe braune Spuren auftauchen – etwa jene Chatgruppe­n in der nordrhein-westfälisc­hen Polizei. Geht überhaupt nicht, da kann es keine Kompromiss­e bei der Aufklärung geben, ist Stürmers Haltung.

Anderersei­ts fürchten Polizeikre­ise, dass rechtsextr­eme Auffälligk­eiten in den eigenen Reihen und rassistisc­he Vorwürfe wiederum Unruhestif­ter als Anlass dienen, erst recht gegen Beamte vorzugehen. „Nazi“ist eine oft gehörte Beleidigun­g selbst von unpolitisc­hen Störern, irritieren­derweise jüngst auch von rechtssteh­enden „Querdenker­n“, von Linken sowieso, wie Polizisten berichten. Womöglich folgt noch eine Entmenschl­ichung von Beamten. Die „Süddeutsch­e Zeitung“hat dieser Tage von der Räumung der linken Berliner Szenekneip­e Syndikat berichtet. Demnach skandierte ein roter Mob: „Gebt dem Bullen was er braucht: Neun Millimeter in den Bauch.“Gemeint ist mit der Maßeinheit ein Geschosska­liber.

Polizeiprä­sident Uwe Stürmer

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