Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Warten auf die Impfe
Wenn nicht die ganze Situation so belämmernd wäre, so könnte man Teilaspekte der Corona-Pandemie ganz prickelnd finden – etwa ihren Einfluss auf die Sprache. In den einschlägigen Instituten wird auch schon intensiv dazu geforscht. Eine große Hilfe sind dabei das Neologismen-Wörterbuch des IDS (LeibnizInstitut für deutsche Sprache) oder das Glossar zu Covid-19 des DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). Für dieses Glossar wurden seit März Begriffe im Zusammenhang mit der Pandemie gesammelt – ob die Wörter nun dem medizinischen Umfeld angehören, ob sie Neuschöpfungen sind, oder ob sie aus dem allgemeinen Wortschatz stammen und in der Krise lediglich mit neuem Inhalt aufgeladen wurden.
Von Absonderung über Durchseuchung, Gesichtsvisier, Herdenimmunität, Maskenmuffel, Präventionsparadox, Spuckschutzwand und Webinar bis Zoonose reicht die Liste der 240 Wörter. Zahlreich sind dabei naturgemäß die Verbindungen mit Corona: Corona-Abitur, Corona-Bond, Corona-Demo, Corona-Ferien, CoronaKabinett, Corona-Party, Corona-Skeptiker … Nun ist aber noch ein weiteres Wort aufgetaucht: Corona-Sprech. Man könne den ganzen CoronaSprech nicht mehr aushalten, wird lauthals im Netz geklagt – in Verkennung der Tatsache, dass sich das situationsbedingte dauernde Kreisen um die Krise automatisch beim Sprechen niederschlägt, ob am Frühstückstisch oder in den Medien. Ein Ende ist erst in Sicht, wenn die Seuche selbst dahinsiecht. Dann werden auch die sowie die Corona-Pfunde
verschwinden – und hoffentlich auch die Corona-Leugner, aus der Sprache und vor allem aus der Wirklichkeit.
Das Wort spricht übrigens für sich. Gemeint ist der Jargon einer Gruppierung. Und wie bei Politsprech, Juristensprech, Wirtschaftssprech, Gendersprech oder Werbesprech schwingt da Geringschätzung mit. Das kommt nicht von ungefähr. Der Begriff Sprech geht auf George Orwell zurück. In seinem düsteren Zukunftsroman „1984“beschrieb er einen Überwachungsstaat, der sich eine eigene Sprache namens Newspeak
schafft, auf Deutsch Neusprech. Dieser Neusprech ist so vereinfacht, dass Menschen komplexe und vor allem kritische Gedanken kaum mehr denken können, geschweige denn äußern. Dass Orwell derzeit auch auf Protestplakaten bei den Corona-Demos zitiert wird, verwundert nicht. Dort zieht man bewusst die Parallele zu einem totalitären, jede Kritik abwürgenden System. Allerdings ist die Prämisse falsch – nicht das Weltbild der Politiker, die sich um die Bevölkerung sorgen, ist abstrus, sondern jenes der Corona-Leugner. Analog zu Sprech gibt es seit geraumer Zeit auch das Wort Denk, womit – ähnlich abwertend – ein eingeschränktes Denken gemeint ist. Als ob uns die Denke nicht schon gereicht
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
hätte! Die Denke der Politiker, die Denke der Touristiker, die Denke der Kleintierzüchter… Schon immer haben Verfechter eines guten Stils bei Wörtern dieser Machart – Tanke, Sause, Schalte – die Nase gerümpft. Aber sie haben halt einen Vorteil: Sie sind schön kurz, WhatsApp-gerecht. Eines ist allemal sicher: Die VideoSchalte wird uns auch über Corona hinaus erhalten bleiben.
Und was droht uns noch an CoronaNeologismen in nächster Zeit? Die Impfe. Neuer Slogan vor Weihnachten: Wir warten auf die Impfe!
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